Die Eigendiagnose eines sachkundigen Patienten ist kein Freibrief für den behandelnden Arzt
Auch wenn ein selbstbewusst und sachkundig auftretender Patient eine laienhafte Eigendiagnose stellt, muss ein Arzt diese kritisch betrachten und den Patienten sorgfältig und medizinisch
umfassend befragen. Wird aufgrund einer unzureichenden Anamnese die sonst zweifelsfrei erforderliche Hinzuziehung eines anderen Facharztes unterlassen, haftet der erstbehandelnde Arzt den Hinterbliebenen des inzwischen
verstorbenen Patienten auf Schadensersatz. Dies hat das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz durch Beschluss vom 30. Januar 2012 - Aktenzeichen: 5 U 857/11 -entschieden und damit – wie zuvor das Landgericht (LG) Mainz – der
Klage der Ehefrau und der beiden Kinder des Patienten auf Schadensersatz dem Grunde nach stattgegeben.
Sachverhalt:
An einem Nachmittag im Mai 2007 wurde der 36-jährige Vater und Ehemann der Kläger, selbst Rettungssanitäter von Beruf, von zwei Kollegen gegen 16:00 Uhr mit dem Krankenwagen zum beklagten Arzt,
einem Orthopäden (in Mainz), gebracht. Dort berichtete der Patient von außergewöhnlich starken Schmerzen in der linken Körperseite und äußerte den Verdacht, Ursache der Schmerzen sei eine Einklemmung eines Nervs im Bereich
der Halswirbelsäule. Der sehr selbstbewusst und sachkundig auftretende Patient erwähnte zudem, das Ganze sei bereits internistisch abgeklärt worden. Damit meinte er allerdings eine im Vorjahr erfolgte internistische
Befunderhebung, während der Beklagte davon ausging, die internistische Untersuchung sei am selben Tage erfolgt. Der beklagte Arzt diagnostizierte eine Querwirbelblockade und eine Muskelverspannung und entließ den Patienten
gegen 16.40 Uhr nach Hause. Gegen 18.00 Uhr fand ihn seine Ehefrau im Bad bewusstlos auf dem Boden liegend. Der herbeigerufene Notarzt stellte nach vergeblichen Wiederbelebungsversuchen gegen 19.00 Uhr den Tod fest.
Todesursächlich war ein akuter vollständiger Verschluss der rechten Herzkranzarterie. Daraufhin kam es zur Schadensersatzklage der Hinterbliebenen. Das LG Mainz stellte eine Haftung des beklagten Orthopäden für sämtliche
materiellen und immateriellen Schäden der Hinterbliebenen fest. Die unterbliebene internistische Abklärung trotz vorhandener Leitsymptome eines Herzinfarktes sei ein grober Behandlungsfehler. Mit seiner Berufung erstrebte
der verurteilte Arzt die Abweisung der Klage. Aufgrund der irreführenden Angaben des Patienten sei er lediglich verpflichtet gewesen, eine Untersuchung auf seinem orthopädischen Fachgebiet vorzunehmen. Das OLG Mainz
bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz.
Entscheidungsgründe (im Wesentlichen):
Ein Arzt sei unabhängig von seinem Fachgebiet gegenüber dem Patienten verpflichtet, alles zur Erforschung und Behebung einer Erkrankung Erforderliche zu unternehmen. Jeder Arzt müsse laienhafte „Diagnosen“ mit kritischer
Distanz aufnehmen, um dann eigenverantwortlich sämtliche objektive Befunde zu erheben. Demnach sei der beklagte Arzt verpflichtet gewesen, das erstmalige Auftreten und die Entwicklung der geschilderten Schmerzen genauer zu
erfragen. Wäre er dieser Verpflichtung nachgekommen, hätte sich zweifelsfrei ergeben, dass die Schmerzen erst vor einer Stunde aufgetreten waren und eine vorherige internistische Abklärung am selben Tage nicht erfolgt sein
konnte. Es wäre klar gewesen, dass die Symptome ergänzend durch einen Internisten hätten abgeklärt werden müssen. Diese Untersuchung hätte einen infarktbedingten Untergang der Herzbeutelmuskulatur zu Tage gefördert und die
daran anknüpfende unverzügliche kardiologische und internistische Krisenintervention hätte das Leben des Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit gerettet.
Wegen der Besonderheiten des Falles sah das OLG Mainz hierin zwar keinen groben Behandlungsfehler, dem Beklagten sei jedoch ein ebenfalls zur Beweislastumkehr führender Befunderhebungsmangel anzulasten. In der Folge seien das
Zahlungsverlangen der Klägerinnen sowie der Anspruch auf Ersatz des künftigen Unterhaltsschadens dem Grunde nach gerechtfertigt. Über die Höhe des Schadens sei im weiteren Verlauf des Verfahrens vor dem LG Mainz zu befinden.
Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) vom 30. Januar 2012 - Aktenzeichen: 5 U 857/11 - *)
Im parallel geführten Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung ist gegen den beklagten Arzt wegen versäumter Abklärung des internistischen Befundes durch rechtskräftigen Strafbefehl auf
eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen erkannt worden.
Werner Schell – Harffer Straße 59, 41469 Neuss
*) Die Entscheidung war am 13.04.2012 noch nicht rechtskräftig, da der Beklagte Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof eingelegt hat.
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