

Ausgabe 2019 Jahrgang 16 - 2. Quartal (Auszug)
Lebenserwartung: Der Kopf ist wichtiger als das Portemonnaie
Dass mit dem Einkommen auch die Lebenserwartung steigt, ist nur die halbe Wahrheit
Spätestens seit einer viel zitierten Studie aus dem Jahr 1975 wird immer wieder behauptet: Wo es mit der Wirtschaft bergauf geht, wächst auch die Lebenserwartung mit. Tatsächlich aber zeigen Analysen der letzten Jahre ein differenzierteres Bild: Demnach ist die Bildung die treibende Kraft hinter dem Zugewinn an Lebensjahren. Eine Studie des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital in Wien bestätigt dies mit neuen Zahlen.
Die Kurven, die Samuel Preston im Jahr 1975 veröffentlichte, waren beeindruckend. Über Jahre hinweg beschrieben sie für viele Länder einen stets ähnlichen Zusammenhang: Mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen wächst auch die Lebenserwartung – zunächst sehr steil und dann immer mehr abflachend. Auch mit Daten aus den letzten Jahrzehnten lassen sich diese Kurven nachzeichnen. Und dennoch gibt es große Zweifel daran, dass tatsächlich ein höheres Pro-Kopf-Einkommen die treibende Kraft hinter der vielerorts angestiegenen Lebenserwartung ist. Wolfgang Lutz und Endale Birhanu Kebede vom Wittgenstein Centre in Wien legen in einer Studie aktuelle Daten vor, die zeigen, dass eher die Bildung denn das Einkommen für die durchschnittliche Lebensdauer entscheidend ist.
Preston selbst hatte in einer späteren Studie nicht nur die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens, sondern auch die Alphabetisierungsrate und die Kalorienzufuhr in seine Analysen mit einbezogen. Dabei stellte er bereits im Jahr 1980 fest: „Die Koeffizienten zeigen, dass ein Anstieg um zehn Prozentpunkte bei der Alphabetisierungsrate die Lebenserwartung um etwa zwei Jahre ansteigen lässt. Wächst dagegen das Volkseinkommen um zehn Prozentpunkte, dann nimmt die Lebenserwartung nur um etwa ein halbes Jahr zu.“ Dieses spannende Ergebnis sei jedoch in den späteren Arbeiten zu dem Thema größtenteils übersehen worden, schreiben Lutz und Kebede in ihrer Studie.
Um den Einfluss der Bildung auf die Lebenserwartung anhand aktueller Daten zu überprüfen, zogen die beiden Demografen nun Zahlen aus 174 Entwicklungs- und Industrieländern heran. Dem Daten-Explorer des Wittgenstein Zentrums (WIC 2015) konnten sie Angaben über die durchschnittliche Schulzeit in den verschiedenen Ländern entnehmen, die Zahlen zum Einkommen und zur Lebenserwartung stammen aus dem World Development Indicator (World Bank 2017).
Auch für den nun neu untersuchten Zeitraum von 1970 bis 2010 scheinen sich zunächst die Ergebnisse von Samuel Preston zu bestätigen: Die Lebenserwartung in den untersuchten Ländern ist umso höher, je größer das Pro-Kopf-Einkommen ist. Doch dieser so genannten „Preston-Kurve“ stellen Lutz und Kebede eine weitere gegenüber, die zeigt: Auch die mittlere Schulzeit st für die Höhe der Lebenserwartung in einem Land ausschlaggebend (s. Abb.2). Zwischen den beiden Kurven gibt es jedoch entscheidende Unterschiede: Hat das Einkommen erst einmal ein hohes Niveau erreicht, so ist sein Effekt auf die Lebenserwartung bei weiteren Einkommenszuwächsen nur noch sehr gering. Der Effekt der Schulzeit dagegen bleibt auch bei einem hohen Bildungsniveau nahezu konstant - und es macht durchaus noch einen Unterschied, ob die durchschnittliche Schulzeit neun oder zehn Jahre beträgt.
Darüber hinaus liegen die Werte für alle drei untersuchten Zeitpunkte, 1970 1990 und 2010 sehr eng beieinander. In Ländern, in denen die Menschen im Durchschnitt neun Jahre zur Schule gegangen sind, lag sowohl 1990 als auch 2010 die Lebenserwartung bei 70 Jahren. Im Jahr 1970 lag sie mit etwa 69 Jahren nur leicht darunter. Die Bildung scheint also zeitunabhängig einen großen Einfluss auf die durchschnittliche Lebensdauer zu haben.
Anders ist dies beim Einkommen: In Ländern mit einem Durchschnittseinkommen von 30.000 Dollar (Stand: 2010) lag die Lebenserwartung 1970 bei 73 Jahren, im Jahr 1990 bereits bei 76 Jahren und 2010 sogar bei 79 Jahren. Samuel Preston erklärte diese Lücken zwischen den Kurven mit dem medizinischen Fortschritt, der die Lebenserwartung auch unabhängig vom Einkommen mit der Zeit steigen ließ.
Lutz und Kebede hingegen gehen davon aus, dass das Einkommen gar nicht die wesentliche Ursache für die gestiegene Lebenserwartung ist, sondern eher eine Folge der höheren Bildung. Oder anders formuliert: Wer viele Jahre zur Schule gegangen ist, wird dadurch sowohl ein höheres Einkommen als auch eine höhere Lebenserwartung haben.
In praktisch allen untersuchten Ländern haben besser ausgebildete Menschen eine höhere Lebenserwartung. Und in nahezu allen Industrienationen, für die Daten vorliegen, haben sich die Bildungsunterschiede bei der Lebenserwartung mit der Zeit vergrößert, obwohl sich die allgemeine Gesundheitsversorgung in den meisten Ländern gleichzeitig verbessert hat. Global gesehen ist die Steigerung des Bildungsniveaus im letzten halben Jahrhundert eindeutig der Schlüsselfaktor für die Verbesserung der Gesundheit gewesen – und nicht, wie oft behauptet, ein höheres Einkommen.
Vielleicht, so eine mögliche Erklärung, ist die wirtschaftliche Dimension für die Lebenserwartung gar nicht mehr so entscheidend, sondern eher der Lebensstil, also etwa die Ernährung, die Work-Life-Balance, das Gesundheitsbewusstsein oder regelmäßige Bewegung. Denn in den vergangenen Jahrzehnten haben sich die häufigsten Todesursachen zunehmend von infektiösen auf chronische Krankheiten verlagert, die stärker vom individuellen Lebensstil abhängen. Für die Ausprägung dieses Lebensstils aber ist weniger die Versorgungssicherheit, als vielmehr die Bildung des Einzelnen entscheidend. Höhere Bildung führe meist zu komplexerem und längerfristigem Denken und damit auch oft zu Verhaltensweisen, die sich auf die Gesundheit positiv auswirken, so die Forscher.
Doch nicht nur bei der Lebenserwartung ab Geburt, auch bei der Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren scheint Bildung ein wichtiger Faktor zu sein. Kinder sterben vor allem dann besonders häufig vor dem 5. Geburtstag, wenn die Mütter gar nicht oder nur wenige Jahre zur Schule gegangen sind, zeigen Kebede und Lutz in ihrer Studie.
Die Aussagen der Grafiken untermauern die beiden Demografen mit Hilfe sogenannter Regressionsanalysen. Dabei wird mittels statistischer Modelle untersucht, inwieweit die beiden Faktoren „Einkommen“ und „Bildung“ die Entwicklung der Lebenserwartung beeinflussen. Besonderheiten von bestimmten Ländern oder Zeiträumen können dabei herausgerechnet werden.
Betrachtet man den Einfluss von Bildung und Einkommen in diesen Modellen gemeinsam, so zeigt sich, dass das Einkommen nur in einem sehr schwachen Zusammenhang mit der Lebenserwartung steht. Ganz anders sieht das bei der Bildung aus. Sie ist hoch signifikant für die Entwicklung der Lebenserwartung und auch für die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren.
Das wäre ein weiterer Hinweis darauf, dass sich hinter dem statistischen Zusammenhang zwischen Einkommen und Gesundheit – wie von der Preston-Kurve beschrieben – ein ganz anderer Zusammenhang verbirgt: nämlich die Verbesserung des Bildungsniveaus, die ein entscheidender Faktor für eine bessere Gesundheit und für ein steigendes Einkommen ist. Diese Erkenntnis sollte zukünftig berücksichtigt werden, wenn es darum geht, die Gesundheit und Langlebigkeit zu fördern, schreiben Lutz und Kebede. Gerade die Politik brauche Antworten auf die Frage, wo Mittel hierfür am effektivsten eingesetzt werden können.
Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Wolfgang Lutz
Literatur Lutz, W. and E. Kebede: Education and health: redrawing the Preston curve. Population and Development Review 44(2018)2, 343-361. DOI: 10.1111/padr.12141
Quelle: https://www.demografische-forschung.org ... fo1902.pdf (Textübernahme ohne Abbildungen)
