Ein Faktencheck und Diskussionsbeitrag

2015 wurden 71% aller Pflegebedürftigen von 2,9 Millionen Angehörigen (davon 64% Frauen) zu Hause versorgt, damit ist häusliche Pflege der tragende Pfeiler des deutschen Pflegesystems. 1)
Das SGB XI heißt „Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“, aber was bedeutet das genau? Die Pflegeversicherung ist nur eine Teilleistungsversicherung, umgangssprachlich sagt man „Teilkasko“. Autoversicherer beschreiben deutlich, wie viel Prozent eines Schadens der Teilkaskoschutz umfasst, der Gesetzgeber formuliert es so:
- SGB § 3: „Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lang in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Leistungen der teilstationären Pflege und der Kurzzeitpflege gehen den Leistungen der vollstationären Pflege vor.“
- SGB § 4: „Die Pflegeversicherung hat die Aufgabe, Pflegebedürftigen Hilfe zu leisten, die wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit auf solidarische Unterstützung angewiesen sind.“
Das Finanzvolumen der soz. Pflegeversicherung liegt derzeit jährlich bei 25,91 Milliarden € 2). Diese Summe wird durch Mitglieds- und Arbeitgeberbeiträge erbracht, es werden keine „Millionen Euro reingepumpt“, wie in Diskussionen zuweilen behauptet wird, die PV trägt sich überwiegend selbst.
Statistische Zahlen (2014) 3) machen deutlich, weshalb „ambulant vor stationär“ favorisiert wird:
25% des jährlichen Beitragsaufkommens gingen in die Pflegegeldzahlung,
15% in die Inanspruchnahme von ambulanten Sachleistungen,
42% in Zuschüsse für vollstationäre Pflege.
Die restlichen 18% wurden für Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege, Entlastungsbeträge, Pflichtbei-träge zur Rentenversicherung, Kosten des MDK usw. eingesetzt.
Fazit: Während 71% der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt wurden, flossen 2014 nur 25% in die Pflegegeldzahlung, das zeigt: Nichts ist kostengünstiger als die Pflege durch Angehörige.
Seit Jahren wird von Betroffenen angeprangert, in Zeitungen und Büchern beschrieben oder in sozialen Netzwerken und Fernsehsendungen diskutiert, dass das geltende System für viele Pflegende ein Gesundheits- und Armutsrisiko ist, daran hat auch das neue Pflegestärkungsgesetz nichts geändert.
Einer der Gründe ist: BGB und SGB XII gehen von einer kostenlos zu leistenden „sittlichen und rechtlichen Beistandspflicht“ von Ehegatten bzw. Eltern und Kindern aus. Diese Regelung stammt aus einer Zeit, in der die Deutschen Æ 47 Jahre alt wurden, viele Kinder hatten, Familienmitglieder nah beieinander wohnten und kaum Frauen einer Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses nachgingen.
Aber kann man das auch unter den völlig veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen des 21 Jahrhunderts pauschal fordern? Was hat „Beistand“ mit jahrelanger Vollpflege zu tun? Darf man von Pflegepersonen, die selbst ein geringes oder gar kein Einkommen oder Vermögen haben, verlangen, diese Arbeit zum Nulltarif zu erbringen? In einer Zeit, in der die durchschnittliche Pflegedauer bei 9,3 Jahren und die Æ Lebenserwartung der Männer bei 77,7 bzw. der Frauen bei 82,8 Jahren liegt? 4) Das Pflegesystem wird als solidarisch bezeichnet, ist es das wirklich?
Wenn diese „Beistandspflicht“ nicht differenziert wird, kann man allen, deren finanzieller Rückhalt nicht auf Jahre gesichert ist, nur dringend empfehlen, sich nicht auf eine Pflegeübernahme einzulassen. Viele ehemals Pflegende, die durch ihre Pflegearbeit in Grundsicherung gerieten, warnen andere davor, sich diesem Risiko auszusetzen, schließlich ist lebenslange Armut (ohne Rücklagen für eigene gesundheitliche Belange im Alter) eine demütigende, ungerechte und frustrierende Erfahrung.
Was müsste verändert werden?
Laut offiziellen Berechnungen steigt die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2060 von z.Zt. 2,9 auf 4,64 Millionen. 5) Die Arbeit der pflegenden Angehörigen ersetzt 3,2 Milliarden Vollzeitarbeitsplätze 6) und jeder weiß, dass es weder diese Pflegekräfte noch die dazu nötigen Einrichtungen je geben wird, schließlich ist der Fachkräftemangel schon heute besorgniserregend.
Doch trotz demografischen Veränderungen und der Notlage vieler Angehöriger geht der Gesetzgeber davon aus, dass auch künftig der Hauptteil der Pflege von Verwandten, Freunden und sogar Nachbarn kostenlos erbracht wird - wie im letzten Jahrhundert - obwohl diese Erwartung in krassem Gegensatz zu allem steht, was die Folgegeneration anstrebt oder sich leisten kann (z.B. Alleinerziehende).
Wenn die Rahmenbedingungen für häusliche Pflege nicht endlich „armutsfest“ umgestaltet werden, ist vorprogrammiert, dass die Pflegebereitschaft weiter sinkt. Schon heute ist die Altersarmut von Frauen mit 15,6% 7) überdurchschnittlich hoch, schließlich schultern sie von jeher die Hauptlast aller unbezahlten Arbeiten (Kindererziehung, Haushaltführung, häusliche Pflege), während das Pflegegesetz weiterhin vorrangig auf die Hilfsbereitschaft von Frauen setzt - ohne jeden finanziellen Ausgleich.
Das Pflegegesetz unterstützt einiges, was die Verweildauer der Pflegebedürftigen in häuslicher Umgebung fördert, erleichtert oder verlängert, das spart Heimplätze. Aber für die „Pflege der Pflegenden“ wird kaum etwas getan (allenfalls werden geringfügige Rentenbeiträge gezahlt). Man kalkuliert den Familiensinn und die Arbeitskraft der Pflegenden einfach ein, auch wenn das viele in die Armut führt.
Bei den lange geforderten Verbesserungen …
… kann es nicht um einen finanziellen Zuschuss für alle Pflegenden gehen, der ist vermutlich nicht mal zu zahlen, wenn die Teilversicherung in eine Vollversicherung umgewandelt würde.
Dazu Zahlen: 6) Volkswirtschaftlich betrachtet entspricht die Pflegeleistung der Angehörigen 44 Milliarden €, während das Gesamtvolumen der soz. Pflegeversicherung nur bei 25,91 Milliarden € liegt.
Zum Vergleich: Die Mitgliedsbeiträge der sozialen Krankenversicherung liegen bei 14,6% des Einkommens, die der sozialen Pflegeversicherung bei 2,55 und für Kinderlose bei 2,8%. 8 )
Das Pflegegesetz erlaubt zwar, dass die Pflegebedürftigen das Pflegegeld steuerfrei an ihre Bezugsperson weitergeben, aber wie sollen wirtschaftlich schlecht gestellte Kranke Geld weitergeben, wenn der Pflegegeldbetrag nicht mal alle pflegebedingten Zusatzkosten deckt (Teilkasko)?
Eine repräsentative Bürgerbefragung ergab: 9)
„Leistungsausweitungen in der Pflege stoßen in der Bevölkerung auf große Akzeptanz. Gleiches gilt sogar für die damit verbundenen Kosten und den Anstieg der Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung. Die meisten Menschen in Deutschland begrüßen es, dass in Zeiten des demografischen Wandels mehr Geld genutzt wird, um die Pflege zu verbessern.“ (Eine Beitragserhöhung von 0,1% bringt Mehreinnahmen von jährlich 1,2 Milliarden Euro).
Zitat: 10) „Eigentlich dürfte Gesundheit in Deutschland keine Frage des Geldes sein, denn das Gesundheitssystem ist nach dem Solidarprinzip aufgebaut, um das viele Staaten die Deutschen beneiden. Vereinfacht gesagt bedeutet das: Jeder gesetzlich Versicherte zahlt, was er kann und bekommt, was er braucht. In punkto Gesundheit zählt das Prinzip des Ausgleichs zwischen Arm und Reich allerdings oftmals nur auf dem Papier.“
Beispiel: Wenn jemand in ein Pflegeheim aufgenommen werden soll, wird als Erstes geklärt, wer die Kosten erbringt, schließlich übernimmt die Pflegeversicherung max. 50% davon.
Reichen die Einkünfte des/der Pflegebedürftigen nicht aus, werden Ehepartner, Kinder oder Eltern herangezogen, sofern deren eigenes Einkommen die gesetzlich vorgesehene Selbstbehaltssumme übersteigt. Ungedeckte Kosten trägt das Sozialamt. Die Bezugsperson wird weiter den Kranken besuchen und begleiten - aber daneben möglichst erwerbstätig sein, um für sich selbst und ihr Alter zu sorgen.
Und bei Übernahme einer häuslichen Pflege? Falls der MDK einen Pflegegrad ermittelt hat, wird das Pflegegeld an den/die Pflegebedürftige gezahlt. Darüber hinaus fragt niemand, ob sie oder die Pflegeperson die anfallenden Kosten überhaupt aufbringen kann, auch nicht, wenn das Pflegegeld (wegen voller Inanspruchnahme der Sachleistung) ganz gestrichen wird. Das einzige, was interessiert, ist, dass eine „nicht erwerbsmäßig tätige Person“ die Pflegearbeit zuverlässig leistet und dass das geschieht, wird in vorgeschriebenen „Beratungsgesprächen“ viertel- bzw. halbjährlich kontrolliert.
Ansonsten wird die häusliche Pflegeleistung unentgeltlich gefordert und in den weitaus meisten Fällen funktioniert das auch, weil der/die Pflegebedürftige genügend Einkünfte oder Vermögen hat und damit alle Kosten und Entlastungen finanzieren kann (notfalls auch den Lebensunterhalt der Pflege-person) oder auch, weil der/die Bezugsperson oder andere Angehörige die finanziellen Lücken füllen.
Und wenn das nicht möglich ist? Schließlich gibt es Teilzeit- und Aushilfskräfte, befristete Arbeits-stellen, Witwen, Geringverdiener, Frührentner, Alleinerziehende, Leiharbeiter, Aufstocker, Sozialrentner, Arbeitslose … auch sie haben Familiensinn und Angehörige mit Pflegebedarf.
So wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer breiter! Viele Angehörige geben - wegen einer Pflege und im Vertrauen auf eigene Rücklagen - ihren Beruf auf, wer ahnt schon, wie lang sich eine Pflege hinziehen kann und wie schnell dabei Ersparnisse schmelzen? Ehe pflegende Angehörige Geld zum Lebensunterhalt erhalten, sind sie gezwungen, ihre eigenen Rücklagen (bis auf den erlaubten Selbstbehalt) aufzubrauchen.
Danach erhalten sie Hartz IV, werden als arbeitslos eingestuft und müssen sich zwecks „Eingliederung in den Arbeitsmarkt“ regelmäßig mit Arbeitsangeboten auseinander setzen, ohne zu berücksichtigen, dass jahrelange häusliche Pflege - zumindest die in höheren Pflegegraden, Schwerarbeit ist.
Die Folge dieser Regelung ist, dass 7% aller Hartz IV Bezieher (rd. 284.000 Personen) pflegende An-gehörige sind, die als arbeitslos registriert werden, weil Pflege ja keine Arbeit ist! 11)
Zum Vergleich: Wer zu Hause pflegt, vollbringt an 365 Tagen einen Balanceakt zwischen Liebe, Pflichtgefühl, Kindererziehung, Teilzeitberuf und allen anderen Anforderungen, wobei der dringend nötige Selbstschutz und auch die eigene Gesundheit tausendfach auf der Strecke bleibt!
Alle Pflegenden ersparen dem Staat und der Allgemeinheit hohe Ausgaben, egal ob sie selbst wohlhabend oder arm, jung oder alt, gesund oder gesundheitlich beeinträchtigt sind. Wieso wird ihnen nicht derselbe Einkommensbehalt zugestanden wie den Verwandten von Heimbewohnern?
Bei der Beschäftigung von Hilfskräften aus Osteuropa ist vorgeschrieben, dass neben der Bezahlung auch Pausen, Arbeitszeiten und Urlaubsansprüche klar geregelt werden müssen, wobei betont wird, dass eine 24h Verfügbarkeit gegen das deutsche Arbeitsschutzgesetz verstoße.
Und was ist mit den pflegenden Angehörigen? Niemand achtet auf deren „Arbeitsschutz“, sie haben viele Pflichten, aber kaum Rechte (z.B. auf Erholung). Die politisch Verantwortlichen wissen genau, dass „ambulant vor stationär“ ohne die Bereitstellung von 24h Versorgungssicherheit unmöglich ist. Kein Demenz- oder Schwerkranker könnte zu Hause bleiben ohne die unauffällige und selbstverständliche Gewährleistung von Pflege, Betreuung und Sicherheit rund um die Uhr, gerade sie macht den Spareffekt der Angehörigenpflege aus.
Häusliche Pflege wird freiwillig übernommen, niemand kann dazu gezwungen werden…
… aber sie darf für niemand zu einem Armutsrisiko werden, dieser Preis ist einfach zu hoch!
Zur Entlastung wurde im PSG I, II und III vieles versprochen, nun ist der Gesetzgeber in der Pflicht, diese Ankündigungen auch sicherzustellen - flächendeckend: Erreichbare Pflegestützpunkte oder Beratungsstellen; ausreichend niederschwellige Entlastungsangebote, Tages- und Nachtpflegen; Erholungsheime für Angehörige, allein oder zusammen mit den Pflegebedürftigen usw.. Außerdem muss der „Entlastungsdschungel“ entwirrt werden, denn viele der durchaus hilfreichen Angebote kommen bei den Betroffenen nicht an, weil sie der Informationswust oder die Bürokratieflut abschreckt. Entlastungsangebote müssen für jeden Normalbürger verständlich sein!
Neben alldem brauchen die Pflegenden, deren eigenes Einkommen unterhalb einer (festzulegenden) Einkommensgrenze liegt, einen finanziellen Ausgleich oberhalb der Armutsfalle ALG II. Wie dieser Ausgleich aussehen könnte, ist Sache der politisch Verantwortlichen. Denkbar wäre ein deutlich höheres Pflegegeld, teilweise zur Weitergabe an die Pflegeperson (das bei Inanspruchnahme der Sachleistung nicht gekürzt werden darf). Auch eine Erhöhung der PV Beiträge wäre denkbar, denn 0,1% Beitragserhöhung erbringen Mehreinnahmen von jährlich 1,2 Milliarden €.
Die politisch Verantwortlichen sind dringend aufgerufen, die Pflegeversicherung endlich solidarisch und „armutsfest“ umzugestalten. Geschieht das nicht, wird die Bereitschaft zur Pflegeübernahme weiter zurückgehen - aus Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin.
Und dieser „Selbstschutz“ wird, zusammen mit der Verdoppelung des Pflegebedarfs und dem permanenten Fachkräftemangel, über kurz oder lang zum Kollaps des „deutschen Pflegesystems“ führen und der wäre eine Katastrophe, vor allem für diejenigen, die auf Hilfe angewiesen sind,
und das können oder werden irgendwann wir alle sein!
Zusammenstellung: Gudrun Born, http://www.gudrun.born@t-online.de
Februar 2017 Download: http://www.pflegebalance.de
Fußnoten:
1) https://www.destatis.de/DE/PresseService/, statistisches Bundesamt 2015
2) Quelle: Barmer GEK Pflegereport 2015, Seite 11
3) Quelle: Barmer GEK Pflegereport 2016, Seite 117
4) Datenreport 2016 bpb Seite 31, Destatis statistisches Bundesamt WZB
5) Barmer BEK Pflegereport 2015, Seite 14
6) Vgl. Backes, Gertrud M.: Wenn die Töchter nicht mehr pflegen … Geschlechtergerechtigkeit in der Pflege. In: WISO Diskurs, Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Mainz, September 2009, S. 15ff.
7) Zeitung Frau und Mutter, Nr. 04/16, S. 18, Herausgeber Kath. Frauengemeinschaft Deutschlands, Bundesverband. e.V.
8 ) VDK Zeitung Hessen-Thüringen, April 2017, Seite 4
9) BMG Das Pflegestärkungsgesetz II, a.a.O., S. 11
10) Aus Kfd Zeitschrift Frau und Mutter 2016
11) http:// http://www.IAB-Kurzbericht 5/15, Wie Leistungsbezieher Pflege und Arbeitssuche vereinbaren.
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Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk wirbt seit Jahren für die Gestaltung von kommunalen Quartiershilfen als wirkungsvolle Unterstützung der pflegebedürftigen Menschen und der Angehörigen. Mit solchen Hilfen wird dem Grundsatz "ambulant vor stationär" wirkungsvoll zur Geltung verholfen!