Arzneimitteltherapiesicherheit in den Pflegeeinrichtungen

Gesundheitswesen, Krankenhaus- und Heimwesen, Katastrophenschutz, Rettungsdienst, Arzneimittel- und Lebensmittelwesen, Infektionsschutzrecht, Sozialrecht (z.B. Krankenversicherung, Pflegeversicherung) einschl. Sozialhilfe und private Versorgung

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WernerSchell
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Weniger sedierende Psychopharmaka für Heimbewohner ...

Beitrag von WernerSchell » 11.10.2020, 16:31

Huml will weniger sedierende Psychopharmaka für Heimbewohner - Bayerns Gesundheitsministerin fördert neue Studie mit 260.000 Euro

Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml wirbt für einen verantwortungsbewussten Einsatz sedierender Psychopharmaka, mit denen eine dämpfende Wirkung auf das zentrale Nervensystem hervorgerufen wird. Huml betonte am Sonntag: „Bei 40 Prozent der Heimbewohner mit Demenz werden sedierende Psychopharmaka verordnet. Diese Medikamente haben viele Nebenwirkungen und müssen daher besonders zurückhaltend eingesetzt werden. Deshalb fördern wir ein Projekt, um den Einsatz von sedierenden Psychopharmaka bei dementen Bewohnern von Pflegeheimen und ambulant betreuten Wohngemeinschaften in Bayern zu reduzieren.“
Huml ergänzte: „Wir fördern das Projekt mit rund 260.000 Euro.“ Konkret geht es dabei um eine Studie mit dem Titel „Reduktion sedierender Psychopharmaka bei Heimbewohnern und Mietern in ambulant betreuten Wohngemeinschaften mit fortgeschrittener Demenz" (DECIDE-Projekt). Sie wird von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Janine Diehl-Schmid vom Klinikum Rechts der Isar geleitet. Im Rahmen des Projekts sollen Fortbildungen und Informationsveranstaltungen angeboten werden. Außerdem ist eine Website mit umfangreichen Informationen geplant.
Huml sagte: „Mir ist bewusst, dass sedierende Medikamente bei einer Reihe von Erkrankungen notwendig sind, um die Beschwerden von Patienten zu lindern. Allerdings möchten wir für einen bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit Sedativa werben. Mit der Studie sollen die Öffentlichkeit und die Beschäftigten in der medizinischen Versorgung und Pflege für die Problematik sensibilisiert werden. Außerdem planen wir einen Fachtag sowie Vorträge auf Kongressen zu dieser Thematik.“
Im Rahmen des DECIDE-Projekts soll außerdem eine Arzneimittelüberprüfung bei allen Bewohnern mit Demenz in 60 bayerischen Heimen beziehungsweise ambulanten Wohngemeinschaften stattfinden. Hierbei sollen mögliche Wechselwirkungen analysiert und individuelle Optimierungsempfehlungen für den behandelnden Arzt gegeben werden. Das Ergebnis der Arzneimittelüberprüfung wird aus neurologisch/psychiatrischer und pharmazeutischer Sicht kommentiert und den Einrichtungsleitungen zur Verfügung gestellt.

Quelle: Pressemitteilung vom 11.10.2020
Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege
Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk (Neuss)
https://www.pro-pflege-selbsthilfenetzwerk.de/
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Demenz-Studie: Einsatz von Psychopharmaka hochbedenklich

Beitrag von WernerSchell » 28.11.2020, 17:42

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Pressemitteilung vom 19.11.2020:

Demenz-Studie: Einsatz von Psychopharmaka hochbedenklich
- Bremer Arzneimittelexperte Prof. Gerd Glaeske kritisiert Fehlversorgung mit Neuroleptika
- Hausärzt*innen in der Zwickmühle
- "Aktivierende Pflege statt chemischer Ruhigstellung"


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Foto: Prof. Gerd Glaeske

Inhalt
Bremer Arzneimittelexperte Prof. Gerd Glaeske kritisiert Fehlversorgung mit Neuroleptika
Hausärzt*innen in der Zwickmühle
"Aktivierende Pflege statt chemischer Ruhigstellung"
Über die hkk Krankenkasse (Handelskrankenkasse):


Rund 30 % aller demenzerkrankten männlichen hkk-Versicherten bekamen im Zeitraum eines Jahres mindestens einmal ein Psychopharmakon verordnet, obwohl diese Medikamente bei Menschen mit Alzheimer­demenz mehr schaden als nutzen. Dabei handelt es sich größtenteils um Neuroleptika, die üblicherweise bei Schizophrenie und Psychosen angewendet werden. Das ist das Ergebnis des aktuellen Demenzreports der Universität Bremen unter der Leitung des Arzneimittelexperten Prof. Gerd Glaeske in Kooperation mit der hkk Krankenkasse.


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Bremer Arzneimittelexperte Prof. Gerd Glaeske kritisiert Fehlversorgung mit Neuroleptika

Die Neuroleptika-Fehlversorgung belastet männliche und weibliche Patienten in ähnlicher Weise. Die Analysen zeigen, dass der prozentuale Anteil der betroffenen hkk-Versicherten mit Neuroleptika-Verordnungen über die Jahre insgesamt sogar angestiegen ist.

Unterschiedliche Psychopharmaka und Schlafmittel, vor allem Neuroleptika und Benzodiazepine, werden zusammengenommen deutlich häufiger verordnet als Antidementiva. Diese sollten trotz mancher Zweifel an ihrer Wirksamkeit jedoch bevorzugt eingesetzt werden, um die Chance zu erhöhen, das Fortschreiten der Demenz zu verlangsamen.

„Es gibt keinen Grund, Demenzerkrankte mit konventionellen Neuroleptika zu behandeln, da nicht belegt ist, dass diese Medikamente Verhaltensstörungen bei den Betroffenen positiv beeinflussen“, sagt Glaeske.

Darüber hinaus verdichten sich seit einigen Jahren die Hinweise, dass Neuroleptika bei Demenzerkrankten schwerwiegende unerwünschte Folgen, wie etwa Herzinfarkt, Schlaganfall sowie Lungenentzündung, haben können und mit einer insgesamt erhöhten Sterblichkeit zu rechnen ist. Die noch immer häufige Verordnung ist auch deshalb besorgniserregend, weil die Zulassungsbehörden und auch die pharmazeutischen Unternehmen die Ärzt*innen schon vor mehr als zehn Jahren auf das erhöhte Sterberisiko hingewiesen haben.

Außerdem können Neuroleptika bei Ruhelosigkeit und sogenanntem herausfordernden aggressiven Verhalten von Demenzpatient*innen möglicherweise zu einem rapiden Verfall der kognitiven Leistungsfähigkeit beitragen. Glaeske: „Eine kurzfristige Anwendung ist lediglich dann vertretbar, wenn die Betroffenen ohne entsprechende Medikation eine unbeherrschbare Gefährdung für sich oder andere sind.“


Hausärzt*innen in der Zwickmühle

Als Ursache für die häufige Anwendung von Neuroleptika über lange Zeiten nennen Forscher[1] unter anderem emotionales Stressempfinden bei den Betreuungspersonen (überwiegend bei den Pflegenden), das von Hilflosigkeit, Überforderung, Ärger, Unzufriedenheit und körperlicher Bedrohung geprägt ist.

Die Bremer Hausärztin und Geriaterin Heike Diederichs-Egidi kennt die immensen Belastungen von Angehörigen und Pflegekräften aus ihrem Praxisalltag: „Es ist für alle extrem belastend, wenn ein dementes Familienmitglied jede Nacht Kinder und Eltern aufweckt. Die Kinder schlafen in der Schule ein und die Eltern sind praktisch arbeitsunfähig. Da befinde ich mich als Hausärztin in einer Zwickmühle – wem werde ich jetzt wie gerecht und wessen gesundheitliches Risiko schätze ich höher ein?“ Natürlich verschreibe sie dann zunächst Neuroleptika, damit sich die Situation entschärft. Denn die gesundheitlichen Belastungen seien auch für pflegende Angehörige und Pflegekräfte enorm. „In den Pflegeheimen kommt der Personalmangel hinzu – diese Situation erlebe ich zunehmend als unwürdig.“ Gleichwohl lehnt auch sie die längerfristige Verordnung von Neuroleptika ab.

[1] Höwler E (2010). Herausforderndes Verhalten bei Personen mit demenziellen Veränderungen aus der Perspektive von Pflegenden – Erleben und Strategien. Stuttgart: Kohlhammer.


"Aktivierende Pflege statt chemischer Ruhigstellung"

Glaeske fordert deshalb, dass Verhaltensstörungen bei Demenz vorrangig durch eine Optimierung der Pflegesituation, ein gezieltes Training von Alltagsfertigkeiten oder durch milieutherapeutische Maßnahmen wie Ergotherapie behandelt werden. „Das Wichtigste ist, für die Erkrankten so lange wie möglich ihre Würde sowie ihre Alltagsfähigkeiten aufrechtzuerhalten und ihnen Erinnerungen aus ihrer früheren Lebenszeit zu bewahren. Die immer noch weit verbreitete Verordnung von ruhigstellenden Mitteln bei Menschen mit Demenz ist langfristig keine akzeptable Strategie“, sagt der Bremer Arzneimittelexperte. „Insgesamt sollten zudem die sich mehrenden Hinweise auf Präventionsmöglichkeiten zur Verringerung der Alzheimer­demenz berücksichtigt werden – Bewegung, Ernährung, Kommunikation und Beschäftigungsmöglichkeiten gehören dazu.“

Diederichs-Egidi empfiehlt darüber hinaus die Verwendung von Biografiebögen und auf die jeweilige Person zugeschnittene Beschäftigungsangebote in Pflegeheimen, um den individuellen Bedürfnissen und Erfahrungen der Patient*innen gerecht werden zu können. „Nicht jeder will tagein, tagaus Mensch ärgere Dich nicht spielen“, so Diederichs-Egidi. Eine individuelle Ansprache helfe Demenzerkrankten, sich zu beruhigen.

Unterstützung und eine kostenlose Beratung für Betroffene und Angehörige gibt es unter www.wegweiser-demenz.de, www.deutsche-alzheimer.de und für Bremen unter www.diks-bremen.de.

Über die hkk Krankenkasse (Handelskrankenkasse):
Die hkk zählt mit mehr als 700.000 Versicherten (davon mehr als 550.000 beitragszahlende Mitglieder), 23 Geschäftsstellen und 2.100 Servicepunkten zu den großen gesetzlichen Krankenkassen. 2019 betrug das Versichertenwachstum mehr als 50.000 Kunden. Mit ihrem Zusatzbeitrag von 0,39 Prozent ist sie das sechste Jahr in Folge die günstigste deutschlandweit wählbare Krankenkasse. Zu den überdurchschnittlichen Leistungen zählen unter anderem mehr als 1.000 Euro Kostenübernahme je Versicherten und Jahr für Naturmedizin, Vorsorge sowie bei Schwangerschaft. Das vorteilhafte Preis-Leistungs-Verhältnis wird durch eine über Jahrzehnte gewachsene Finanzstärke und Verwaltungskosten ermöglicht, die mehr als 25 Prozent unter dem Branchendurchschnitt liegen. Die rund 1.000 Mitarbeiter*innen der 1904 gegründeten hkk betreuen ein Ausgabenvolumen von mehr als 2,5 Mrd. Euro (2,0 Mrd. Euro für die Kranken- und 500 Millionen Euro für die Pflegeversicherung).

Ihre Ansprechpartner > https://www.hkk.de/presse/ansprechpartner


Weitere Infos zum Demenzreport
- Demenzreport 2020(PDF, 1.87MB) > https://www.hkk.de/presse/-/media/files ... 0_web.ashx
- Foliensatz zum Demenzreport 2020(PDF, 2.21MB) > https://www.hkk.de/presse/-/media/files ... 0_web.ashx


Quelle und weitere Informationen > https://www.hkk.de/presse/pressemitteil ... menzreport

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Anmerkungen vom 04.12.2020:
Ich habe bereits vor über 10 Jahren im Rhein-Kreis Neuss (musterhaft) für eine gute Arzneimittelversorgung - u.a. mit weniger Psychopharmaka - geworben und konnte dazu in der Gesundheitskonferenz einen entsprechenden Arbeitskreis platzieren. Die in diesem Arbeitskreis (mit Ärzten, Apothekern, AOK, Pflegekräfte und weiteren Experten) geführten Gespräche, konnten aber die vielfach beschriebenen Probleme leider nicht lösen. Auch der eingeführte Medikationsplan hat nach hiesiger Sicht nichts zur Lösung beigetragen. Die Forderung: "Weniger ist oft mehr" kommt bei den Verantwortlichen, v.a. bei den verantwortlichen Ärzten, nicht an. Es ist daher erforderlich, weiterhin auf die Probleme aufmerksam zu machen … Z.Zt. gibt es erneut Schriftwechsel mit der AOK … Werner Schell
Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk (Neuss)
https://www.pro-pflege-selbsthilfenetzwerk.de/
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WernerSchell
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Arzneimitteltherapiesicherheit in den Pflegeeinrichtungen

Beitrag von WernerSchell » 22.02.2021, 07:50

Zum Thema " Arzneimittelversorgung - Polypharmazie - Medikationsplan - Mängel " wurden im Forum - Archiv (bis 2020) zahlreiche Beiträge eingestellt, u.a.:
> viewtopic.php?f=6&t=14576
> viewtopic.php?f=4&t=16652
> viewtopic.php?f=4&t=23762
> viewtopic.php?f=4&t=21858
> viewtopic.php?f=4&t=21188
> https://www.pro-pflege-selbsthilfenetzw ... tement.pdf
Die Informationen zu diesem Thema werden - im Forum - Beiträge ab 2021 - fortgeführt! - Siehe > https://www.wernerschell.de/forum/2/vie ... p?f=5&t=48


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