Ein Anwendungsbeispiel:
Recht auf geschlechtsspezifische Pflege und die Behindertenrechtskonvention (BRK) - Schutz vor sexueller Gewalt
"Die Pflegestatistik 2005 zeigt, dass 67,6 % aller 2,13 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland Frauen sind. Bei den pflegebedürftigen Menschen im Heim liegt der Frauenanteil sogar bei 77 %. Das bedeutet zum einen, dass Frauen, die pflegebedürftig werden, mit größerer Wahrscheinlichkeit ins Heim kommen als pflegebedürftige Männer. Zum anderen bedeutet es, dass Frauen von den kürzlich durch den Medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V. erneut festgestellten Pflegemängeln in besonderem Maße betroffen sind.
Behinderte Menschen, die Assistenz brauchen, werden in Deutschland schnell auf Heime verwiesen. Diejenigen, denen es gelingt, mit hohem Assistenzbedarf ein selbstbestimmtes Leben zu Hause zu führen, haben oft lange dafür kämpfen müssen. Und immer noch werden gegen die Proteste der Betroffenen neue Heime für behinderte Menschen gebaut. Inspiriert durch die Beispiele Schweden und Norwegen, wo seit einigen Jahrzehnten konsequent Heimplätze abgebaut werden, führte das „Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen – FORSEA e.V.“ die Kampagne „Marsch aus den Institutionen – Reißt die Mauern nieder!“ durch, die inzwischen als „Bundesinitiative Daheim statt Heim“ Federführung der behindertenpolitischen Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Sylvia Schmidt fortgeführt wird. Da HeimbewohnerInnen mehrheitlich weiblich sind, hat dieses Thema eine besondere Relevanz für behinderte Frauen. Schon seit geraumer Zeit fordern behinderte Frauen, ihre Assistenzpersonen selber wählen zu
können. Zumindest wollen sie bestimmen können, ob ihnen ein Mann oder eine Frau assistiert. Insbesondere wenn Frauen auf Assistenz bei der Intimpflege angewiesen sind, würde solch ein Wahlrecht ihre Würde schützen und sexualisierter Gewalt vorbeugen, so die Argumentation.
In dem durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz reformierten Sozialgesetzbuch XI heißt es zwar seit dem 01.01.2009, dass Wünsche der pflegebedürftigen Person nach gleichgeschlechtlicher Pflege nach Möglichkeit Berücksichtigung zu finden haben (§ 1 Abs. 4a und § 2 Abs. 2 SGB XI), doch stellt diese schwache Formulierung einen Rückschritt gegenüber der bis dahin gültigen Regelung (Wunsch- und
Wahlrecht, § 9 Abs. 1 SGB IX) dar, weil das Wunschrecht stark relativiert wird. Die BRK enthält keinen Artikel, der ausdrücklich ein Menschenrecht auf persönliche geschlechtsspezifische Assistenz garantiert. Ein entsprechender legislativer Handlungsauftrag könnte sich jedoch aus Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 16 Abs. 2 i.V.m. Art.17 i.V.m. Art. 19 Abs. b) BRK ergeben. Art. 19 BRK (Unabhängige Lebensführung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) garantiert die Wahlfreiheit behinderter Menschen, außerhalb von Heimen und anderen stationären Einrichtungen zu leben.
Er verpflichtet die Mitgliedsstaaten, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um „behinderten Menschen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Teilhabe und Teilnahme an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie insbesondere dafür sorgen, dass (...) b) behinderte Menschen Zugang zu einer
Reihe von häuslichen (...) Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz (...)“. Gem. Art. 16 Abs. 2 BRK (Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch) sind die Vertragsstaaten verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Prävention von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu treffen, „indem sie unter
anderem geeignete Formen geschlechtsspezifischer und altersgemäßer Hilfe und Unterstützung für behinderte Menschen (...) gewährleisten.“ Art. 17 BRK (Schutz der Unversehrtheit der Person) garantiert das Recht auf körperliche und geistige Integrität. Art. 6 Abs. 2 BRK (Behinderte Frauen) verpflichtet die Mitgliedsstaaten,
„alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, Förderung und Ermächtigung der Frauen“ zu treffen, „damit gewährleistet wird, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können.“ Aus der Zusammenschau dieser Rechte ließe sich
argumentieren, dass eine fehlende Wahlfreiheit in Bezug auf geschlechtsspezifische Assistenzleistungen behinderten Frauen ein Leben innerhalb der Gemeinschaft erschwert. Der faktische Zwang, Assistenzleistung auch im Intimbereich durch Personen des anderen Geschlechts wider Willen ertragen zu müssen, könnte als ein Eingriff in die körperliche und geistige Integrität gesehen werden. Dies gilt selbstverständlich auch für behinderte Männer, Frauen stellen jedoch wegen ihrer höheren Lebenserwartung die größere Gruppe der Pflegebedürftigen, jedenfalls in der Altenpflege, dar. Bei behinderten Frauen ist zudem zu bedenken, dass sie
häufiger durch sexualisierte Gewalt bedroht sind, und diese eben auch im Rahmen der Pflege/Assistenz stattfinden kann. Die Wahl ausschließlich weiblicher Assistenzkräfte kann damit auch als mögliche Präventionsmaßnahme gegen Gewalt und Missbrauch betrachtet werden. Ein entsprechender Rechtsanspruch ergibt sich im Bereich der häuslichen und stationären Pflege nach Auffassung von Gerhard Igl und Sybille Dünnes im Übrigen bereits aus der verfassungskonformen Auslegung des nationalen Rechts.
In ihrem bereits 2002 erstellten Rechtsgutachten über das Recht auf Pflegekräfte des eigenen Geschlechts empfehlen auch sie eine entsprechende legislative Klarstellung im SGB XI.
Außerdem könnte sich bei der Implementierung der BRK im Themenfeld „behinderte Frauen“ weiterer gesetzlicher Handlungsbedarf hinsichtlich des Schutzes vor Gewalt in stationären und ambulanten Einrichtungen der Behindertenhilfe ergeben.
Nach UN-Angaben sind behinderte Frauen doppelt so häufig von sexualisierter Gewalt betroffen wie nicht behinderte Frauen Mädchen und Frauen mit Behinderungen sind in besonderem Maße von physischer und psychischer und dabei auch von sexualisierter Gewalt und Ausbeutung betroffen. Diese Erkenntnis wurde
zunächst durch Untersuchungen im englischsprachigen Raum belegt. Besonders
betroffen von sexualisierter Gewalt sind danach Frauen mit Kommunikationsbeeinträchtigungen durch geistige Behinderungen oder Gehörlosigkeit sowie behinderte Frauen, die aufgrund von Pflege- oder Betreuungsbedürftigkeit in besonderen Abhängigkeitsverhältnissen leben. Weder Familie noch Einrichtungen der Behindertenhilfe sind Schonräume vor sexualisierter Gewalt, da sich die Täter häufig aus dem Verwandten- oder professionellen Helferkreis rekrutieren. Im deutschsprachigen Raum wurde das Thema zwar bereits in den achtziger Jahren durch vereinzelte Veröffentlichungen aufgegriffen , erste empirische Erhebungen und wissenschaftliche Abhandlungen erfolgten jedoch erst Mitte der neunziger Jahre. Eine bundesweite Erhebung über sexualisierte Gewalt in stationären Einrichtungen offenbarte, dass in der Hälfte der beforschten Einrichtungen Fälle sexualisierter Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung
bekannt waren. In einer 1996 veröffentlichten österreichischen Studie gaben rund 64 % der befragten Mädchen und Frauen mit Behinderungen an, einmal oder mehrmals in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Eine 1998 veröffentlichte Studie in Wohneinrichtungen der Berliner Behindertenhilfe bestätigte diese Ergebnisse. Jede vierte bis dritte Bewohnerin in der Altersgruppe der 12- bis 25-jährigen war von sexualisierter Gewalt betroffen.
Eine umfassende Statistik und Untersuchung über die Betroffenheitsrate behinderter Frauen steht in Deutschland jedoch noch aus.
Lange protestierten behinderte Frauen und ihre Interessenvertretungen gegen den mangelhaften strafrechtlichen Schutz gegen sexualisierte Gewalt, der dazu führte, dass Gewalttäter, die sich an behinderten Opfern vergriffen, öfter frei gesprochen wurden. In den 1990er Jahren und Anfang des neuen Millenniums wurden einige strafrechtliche Lücken geschlossen und die Rechtsstellung der Opfer verbessert.
Auch wurde mit § 44 Abs. 1 Ziff. 3 SGB IX (Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins) eine neue Leistung in den Katalog des Rehabilitationssports aufgenommen, der u.a. auch der Prävention von Gewalt dienen soll. Mit verschiedenen Projekten, die vom BMFSFJ gefördert wurden, wurde das Problem der Gewalt gegen behinderte Frauen in den letzten Jahren verstärkt in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit thematisiert. 60 Trotz der erzielten Fortschritte wird von ExpertInnenseite noch (legislativer) Handlungsbedarf angemeldet. Dieser betrifft insbesondere den Schutz behinderter Frauen und Mädchen in Einrichtungen der Behindertenhilfe, die Verbesserung der Rechtsstellung der Verletzten im Strafverfahren und die Verbesserung des Angebots der Hilfen zur Heilung und Rehabilitation der Verletzten. So wurde etwa vorgeschlagen, das Recht auf gleichgeschlechtliche Pflege in § 33 SGB I aufzunehmen und § 10 SGB I sollte um den Schutz vor sexueller Gewalt als Zielaufgabe ergänzt werden. Ein entsprechender Handlungsauftrag kann aus Art. 6 und Art. 16 BRK abgeleitet werden, wonach die Staaten verpflichtet sind, behinderte
Frauen vor Mehrfachdiskriminierungen zu schützen (Art. 6 Abs. 1 BRK) und behinderte Menschen insbesondere im Rahmen der Behindertenhilfe durch stationäre und ambulante Einrichtungen zu schützen (Art. 16 BRK)"
Prof. Dr. Theresia Degener
Legislative Herausforderungen aus der BRK
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