Ein Reha-Aufenthalt irgendwo im hochzivilisierten Deutschland anno 2006. Oder: Wie eine Kur nicht sein sollte.
Von Mirey Gloryan
Bevor ich mit dem eigentlichen Bericht beginne, möchte ich kurz erläutern, warum ich den Namen des Ortes oder der Kurklinik verschweige. Was ich erlebt habe, ist anderen behinderten Menschen in anderen Orten und in anderen Rehakliniken oder Erholungszentren in ähnlicher Weise auch widerfahren. Um einige Missstände zu verdeutlichen, werde ich auch Dinge beschreiben müssen, über die in unseren Breiten normaler Weise nicht gesprochen wird. (Toilettengänge). Ich bitte dafür den Leser um Verständnis. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass sich meine Geschichte in einem besonders rollstuhlfreundlichen Ort und in einem angeblich behindertenfreundlichen Haus abspielte, und nicht etwa in einem Nobelhotel eines vornehmen Badeortes.
Das beweist wieder einmal, dass es nicht ausreicht, die baulichen Barrieren (Treppen, Straßenübergänge, Türbreiten) zu beseitigen. Es müssen auch die vielen, verschiedenen Barrieren (z. B. Vorurteile) in den Köpfen unserer nichtbehinderten Mitmenschen weggeräumt werden. Dazu soll dieser Bericht ein klein wenig beitragen.
Auch am 12.01.2006, einem Donnerstag, wachte ich sehr früh auf. Und wie fast immer in den letzten Wochen und Monaten fühlte ich mich kapput und müde. Es war aber auch eine harte Zeit gewesen. Na ja, heute durfte ich endlich zur langersehnten Kur fahren. Endlich nur noch für meinen Körper und für meine Seele was tun und ansonsten nur ausspannen und faulenzen. Bis 10 Uhr hatte ich noch Zeit, den letzten Kleinkram einzupacken und mich von meinen beiden Stubentigern zu verabschieden. Sie würden in den nächsten drei Wochen von zwei lieben Freundinnen gepflegt werden, dafür hatte ich gesorgt. Es klingelte. Mein Taxi war da. Ich rollte ins Auto, mein Rollstuhl wurde festgeschnallt, meine ganzen Habseligkeiten verstaute der Fahrer auch noch zwischen die Autositze und die Fahrt konnte losgehen.
Unterwegs schoss mir so mancher Gedanke durch den Kopf. Wird diesmal alles glatt gehen? Welche Panne oder welche Überraschung würde es diesmal geben? Mit was für Vorurteilen würde ich kämpfen müssen? Aber auch eine leise Freude über die endlich mögliche Erholung machte sich allmählich breit.
Nach etwa zwei Stunden Fahrt waren wir da. Die Klinik war mir von früheren Aufenthalten bekannt. Ich fuhr gleich mit meinem E-Rolli zum Empfang, um mir den Zimmerschlüssel abzuholen. Die Zimmernummer begann mit einer 5. Nanu, dachte ich, Station 5? Also gut, dann ab in die 5. Unter den beiden Stationsschwestern, die mich in Empfang nahmen, begann ein großes Gezeter. Das Ende vom Lied, ich war in einer Station ohne pflegerische Betreuung gelandet. Aber die Abteilung Neurologie stimmte wohl. Ich muss nur eine oder zwei Etagen höher zur Station 6 oder 7 wandern. "Wir müssen nur schauen, wo ein Zimmer frei ist", hieß es. Hat meine Krankenkasse wirklich vergessen mitzuteilen, dass ich Pflegestufe 3 habe, dachte ich. Nach einer Stunde war dann klar, ich musste auf Station 6. Ich wurde in mein neues Zimmer gebracht und bekam dort eine Weile später mein Mittagessen serviert.
Nach einer oder auch zwei weiteren Stunden kam endlich die Stationsärztin Frau F., natürlich ohne anzuklopfen, zur Tür hereingeschneit. Ich erschrak mächtig. Es begann die übliche "Aufnahmeuntersuchung". Die Dame stellte immer wieder die gleichen Fragen, wohl in der Hoffnung, dass ich mich bei der Beantwortung irgendwann einmal verheddern würde. Aber ich tat ihr den Gefallen nicht. Als dann noch die Frage kam, "können Sie überhaupt lesen und schreiben?", platzte mir innerlich der Kragen. Am Schluss des glorreichen Interviews fragte ich die Ärztin, ob ich denn die Mahlzeiten mit den anderen Patienten im großen Speisesaal einnehmen kann. Sie sagte "nein, wir haben jetzt einen netten kleinen Saal auf Station 7, wo Sie auch Hilfe bekommen können". Hilfe bekommen schön und gut, dachte ich. Aber erstens kann ich entsprechend vorbereitete Speisen alleine essen und zwar sauber, und zweitens roch das sehr nach Diskriminierung von Schwerbehinderten.
Der Klinikleitung war wohl immer noch im Bewusstsein, dass sich Anfang der 80iger Jahre ein Kurgast über den Anblick von Schwerbehinderten beschwert hat. Auch wenn sich vereinzelt solche Vorfälle wiederholen, ist das kein Grund, Schwerbehinderte zu isolieren. Ich wollte und konnte eine Abschiebung in das Speisezimmer der 7. Station nicht tatenlos hinnehmen. Die ersten zwei Tage musste ich mich allerdings fügen, wenn auch nicht ohne Protest.
Während der "Pflege" beim Zubettgehen und Aufstehen am nächsten Morgen musste ich feststellen, dass keine vernünftigen Hilfsmittel vorhanden waren. Es gab für schätzungsweise etwa 50 schwerstbehinderte Patienten im ganzen Haus nur einen einzigen Lifter. Und die Duschrollstühle erinnerten an die starren und harten Holzstühle aus dem 19. Jahrhundert. Nur waren sie aus Plastik und weißlackiert.
Ich überlegte mir also, wie ich vorgehen wollte, um meine Situation zu verbessern. Am nächsten Morgen nahm ich Kontakt zur Patientenverwaltung auf. Dort sagte man mir, für Probleme in der Pflege sei die Pflegedienstleitung zuständig. Ich fuhr gleich zur besagten Stelle hin und berichtete der Dame von meinen Erlebnissen des Vortages. "Natürlich haben Sie das Recht, gut gepflegt zu werden", sagte sie. Oh, wie gnädig, dachte ich. "Dafür müssen Sie aber vielleicht am Montag in die Station 7 ziehen und einen Lifter haben wir auch", meinte die Pflegedienstleiterin. Den aber habe ich nie gesehen, weil er auf einer anderen Station dringender gebraucht wurde. Statt dessen musste ich von zwei Pflegekräften ruckartig mehrmals am Tag zwischen Bett und Rollstuhl hin und her gehoben werden, wobei ich so manches Mal meine gebrochenen Rippen doppelt zu spüren bekam.
Nun ja, kurz und gut. Eine "Geschlossene" gab es nicht. Die Station 7 für schwerste Pflegefälle blieb mir erspart. Ich musste auch nicht im kleinen, abgelegenen und von den anderen nichtbehinderten Kurgästen isolierten Speisezimmer bleiben, nachdem ich mehrfach bewiesen hatte, dass ich sauber und ordentlich mit Essbesteck umgehen kann. Nur blieb ich die meiste Zeit allein am Tisch sitzen. Schade; ich hätte mich schon gerne mit meinem Tischnachbarn unterhalten.
Noch eine kleine Episode zum Schmunzeln oder Heulen. Meine Handykarte war aufgebraucht und ich benötigte eine neue. Ich wollte mir eine kaufen, hatte aber bei meiner ersten Ausfahrt in den Ort keinen Handyladen gefunden. Irgendwann traf ich einen Zivi im Aufzug. Ich fragte ihn, wo ich in der Nähe der Klinik einen entsprechenden Laden finden könnte. Er meinte, "das kann ich Ihnen nicht sagen, Sie dürfen ja auch nicht rausfahren. Sie können aber jemanden beauftragen, Ihnen eine Karte zu holen". Ich sagte nur, "na ja, mal sehen", und dachte, hast du eine Ahnung, was ich kann oder darf. Wenn allerdings einer der Ärzte mir Ausfahrverbot erteilt hätte, dann wäre ich nach spätestens zwei Tagen abgereist. Ich hätte die Kur abgebrochen und wahrscheinlich die Klinik wegen Freiheitsberaubung verklagt. Weil ich aber rechtzeitig zu den Psychologen Kontakt aufnahm, hat sich das keiner getraut.
Trotzdem war und blieb das Verhalten der Pflegekräfte und einiger Therapeuten nach meinem Empfinden höchst merkwürdig. Wie soll ich es zum Beispiel verstehen, wenn eine Ergotherapeutin in der ersten Sitzung einen "Idiotentest" veranstaltet, anstatt sich gleich um meine verkrampften Arme zu kümmern? Auch in der Krankengymnastik wurde sehr viel Zeit mit Dokumentation verbraten. Aber das wird wohl heutzutage von den Kostenträgern so verlangt. Ich finde es nur schade, weil drei Wochen wirklich sehr knapp bemessen sind. Die Pflegekräfte hatten alle die "professionelle Krankenpflege" perfekt drauf. Diese Art von Pflege aber behagte mir gar nicht, weil sie mich noch hilfloser machte, als ich eigentlich bin.
Auch ein behinderter, alter und kranker Mensch hat eine Intimsphäre. Diese Tatsache wurde oft im Eifer des Gefechtes vergessen. So z. B. blieb manchmal selbst während eines Toilettenganges die Zimmertür offen, oder es wurde mir beim Wasserlassen "zugeschaut", das heißt, die Krankenschwester blieb einfach vor mir stehen. Ich hätte sie auch fortschicken können. Das aber könnte unter Umständen bedeuten, dass die Gnädigste erst nach einer halben Stunde oder noch später, wiederkommt. Einmal mussten sich auch die Bedürfnisse meines Körpers nach den Wünschen des Pflegepersonals richten. Stuhlgang nach 21 Uhr war nicht erlaubt. Da war es schlicht und ergreifend Zeit, ins Bett zu gehen. Dieser Umgang mit pflegebedürftigen Menschen wird wohl vermutlich in vielen Pflegeeinrichtungen oder auch Krankenhäusern gang und gäbe sein, fürchte ich. Er wird dadurch aber nicht richtiger. Eine solche Vorgehensweise darf nicht länger toleriert werden.
Ich will nicht einzelne Pflegekräfte an den Pranger stellen. Aber es wird allerhöchste Zeit, dass sich in der Ausbildung der Pflegeschüler etwas ändert. Es reicht nicht, nur praktische Fähigkeiten zu vermitteln. Es muss ihnen auch beigebracht werden, dass Patienten keine leblosen Gegenstände sind, die es blank zu polieren gilt. Ein auf Pflege angewiesener Mensch sollte das Recht haben, nach seinen speziellen Bedürfnissen und seinen individuellen Wünschen versorgt zu werden. Er darf nicht nach einem allgemeinen starren Schema abgearbeitet werden. Eine individuell gestaltete Pflege muss nach einer gewissen Einarbeitungszeit in der Praxis nicht zeitraubender sein, als eine "Pflege" nach Schema F: Ein Patient; der sich von seiner Pflegekraft als Mensch angenommen fühlt, ist viel ruhiger, lockerer und entspannter. Er ist unter Umständen auch in der Lage, ein klein wenig mitzuarbeiten. Und er tut es gerne. Eine solche individuelle Pflege muss auch für die Pflegekräfte nicht körperlich belastender sein. Es gibt ja genügend verschiedene technische Hilfsmittel, die eingesetzt werden können.
Zum Schluss möchte ich von einer positiven Begebenheit berichten, die es mir ermöglichte, die üblichen drei Kurwochen durchzustehen. Um das zumindest anfänglich durchgehend falsche Verhalten des Klinikpersonals besser ertragen und vielleicht sogar ein klein wenig verstehen zu können, suchte ich Kontakt zu einem Vertreter der Psychologie. Es wurde mir eine junge Psychologin zugeteilt, die, wie sie mir später sagte, aus der ehemaligen DDR stammte und bisher noch nicht viel mit Schwerbehinderten zu tun gehabt hatte. Wenn ich lobend erwähnen darf, war diese Frau von Anfang an bereit, mir vorurteilsfrei zuzuhören. Das war eine Wohltat für mein angekratztes Gemüt. Nach der ersten Gesprächsstunde bereits fragte sie mich, "was soll ich bloß mit Ihnen machen, eine Therapie brauchen Sie ja nicht". Ich erwiderte, "wenn Sie für zwei oder drei weitere Plauderstündchen Zeit hätten, würde mir das sehr, sehr gut tun". Sie hatte Zeit.
Zu aller letzt möchte ich dem Leser noch einige Daten aus meinem bisherigen Leben mitteilen.
Ich habe von Geburt an eine relativ stark ausgeprägte spastische Tetraplägie. Bis zum Alter von 11 Jahren wuchs ich, von einigen Krankenhausaufenthalten abgesehen, ausschließlich im wohlbehüteten Elternhaus auf. Den ersten Schulunterricht erhielt ich von einer Hauslehrerin. Mit 12 Jahren kam ich in eine Schule für Körperbehinderte gleich in die 5. Klasse. Dort blieb ich bis zum Abschluss des 9. Schuljahres. Die nächsten drei bis vier Jahre verbrachte ich entweder zu Hause oder in einer Werkstatt für Behinderte. Diese Zeit war sehr langweilig für mich. Nach zähen Verhandlungen mit starker Unterstützung meines Vaters konnte ich das Arbeitsamt überzeugen, dass sich eine Berufsausbildung lohnen würde. Es finanzierte in den Jahren 1972 bis 1974 eine Ausbildung zur EDV-Kauffrau im Berufsförderungswerk Heidelberg. Gleich anschließend fand ich eine Anstellung als Programmiererin in einem Rechenzentrum des öffentlichen Dienstes, die ich bis 1997 innehatte. In den letzten Arbeitsjahren aber verschlechterte sich mein allgemeiner Gesundheitszustand dermaßen, dass ich leider aufhören musste.
Nachdem mein Vater im Jahre 2000 verstarb, übernahm ich die Betreuung meiner derzeit 95jährigen Mutter. Natürlich hatte ich liebe Menschen, die mir zur Seite standen und mich tatkräftig unterstützten. Aber ich war die einzige Verwandte. Besonders die letzten drei Jahre waren sowohl für meine Mutter als auch für mich sehr belastend. Nachdem sie im Dezember letzten Jahres von uns gegangen ist, hätte ich eine wirkliche Erholung dringend gebraucht.
Quelle:
http://www.kobinet-nachrichten.org/cipp ... et,g_a_s_t
Interessant! Wie sieht sich und eine Situation ein behinderter Mensch!
Wir wir wissen gibt es noch schlimmere Situationen! Recht auf WÜRDE und Recht auf Einhaltung von Gesetzen bzw. Ahndung von Verstössen gegen Gesetze, die für ALLE, anderen Menschen auch gelten! Warum dürfen behinderten Menschen Dinge angetan werden, die bei nichtbehinderten Menschen nicht "geduldet" werden würden?