Menschlichkeit ist auch ein organisatorisches Problem
Stellungnahme zu:
Verwirrt, verschwunden, verbrüht, verstorben – Häufung von tragischen Fällen in Berliner Einrichtungen innerhalb weniger Tage
Noch sind es, mit einer wohl zufälligen Häufung in der Hauptstadt, noch tragische Einzelfälle. Sie werfen jedoch dringende Fragen nach der Qualität der Krankenhaus und Pflegeheimversorgung auf. Geht es doch um schwache Menschen, die sich nicht mehr selbst helfen, teilweise gar nicht mehr artikulieren konnten.
Wie berichtet, war ein 63-jähriger demenzkranker Mann am 16. Juni im Klinikum Neukölln verschwunden. Obwohl das Personal und auch die Polizei nach dem Patienten suchten, konnte er nicht gefunden werden. Erst nach sechs Tagen entdeckte man den Mann tot in einem Technikraum, der nicht verschlossen gewesen war. Und an der Charité steckte ein 68-jähriger, an den Rollstuhl gefesselter Mann 80 Stunden lang in einem Fahrstuhl fest, bevor er bemerkt und befreit wurde.
Ein weiterer Fall beschäftigt zur Zeit die Berliner Staatsanwaltschaft: Der schreckliche Tod des 79 Jahre alten Gerhard B. Er konnte nach einem vor Jahren erlittenen Schlaganfall nicht mehr sprechen und sich nicht mehr bewegen. Ein mittlerweile suspendierter Pfleger des Pflegeheims „Am Märchenbrunnen“ hatte den Mann in eine Badewanne mit viel zu heißem Wasser gesetzt. Gerhard B. verbrühte sich und starb kurz darauf in einem Krankenhaus. - Dieser Fall scheint sich allen allgemeinen Kriterien zu entziehen und liegt bisher noch im Dunkeln.
Ansonsten kristallisiert sich heraus, dass allgemeinmedizinische Stationen nicht auf „Weglauftendenzen“ verwirrter Menschen vorbereitet sind, dass Krankenhausmitarbeiter/innen im speziellen Umgang mit dementen Patienten dringend geschult werden müssen. Auch die Auslagerung von Dienstleistungen wie z. B. der technischen Überwachung im Zuge der Klinikprivatisierung wird beklagt. So würde das Stammpersonal der Klinik die Kontrolle über das Ganze verlieren: die Techniker - früher Kollegen die jeder kannte - sind heute anonym und fremd.
Als erste Konsequenz hat die Berliner Charité-Leitung eine Dienstanweisung erlassen, die Ärzte und Pflegekräfte verpflichtet, hilflose Personen nicht mehr unbeaufsichtigt zu lassen. Außerdem soll sofort recherchiert werden, wenn ein Patient verloren geht.
Die zunehmende Zahl älterer Patienten mit prinzipiell nicht vollständig heilbaren Krankheitsbildern bedeutet, dass auf die Krankenhäuser andere Herausforderungen zu kommen. Auf verwirrte Patienten aufzupassen, behinderte und hilflose Personen nicht einfach abzustellen, wenn sie zu einer Untersuchung in eine andere Station gefahren werden müssen, bräuchte natürlich mehr und qualifizierteres Krankenhauspersonal. Aber es geht nicht darum, in eine bestehendes System einfach immer mehr Geld zu pumpen.
Alle im Gesundheits- und Pflegebereiche, auch die ambulanten und stationären Hospize, werden sich darauf einzustellen haben: In Deutschland wird der Anteil der Menschen mit Demenz von derzeit rund 1 Millionen bis 2050 auf das Doppelte ansteigen. Dies hat die Alzheimer-Gesellschaft hochgerechnet. Auch altersverwirrte Menschen erleiden einen Herzinfarkt, sind dabei zuckerkrank, gehbehindert oder sonst wie mehrfach krank (multimorbid) – und werden schließlich Sterbende sein. Diese Menschen brauchen mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge, und zwar lange vor ihrem Tod bzw. einem begleiteten Sterben.
Deshalb sind prinzipiell neue, übergreifende Betreuungsformen gefragt. Und neue Ideen. Experten schlagen elektronische Armbänder für gefährdete Patienten vor, damit man sie stets orten kann. Auch darüber gilt es schnell nachzudenken. In einigen Einrichtungen für Demenzkranke haben sich offenbar Sensoren bewährt, die ein optisches oder akustisches Signal geben, wenn jemand durch die Tür geht.
Prinzipiell muss Menschlichkeit (und die Würde des Patienten sowie der Respekt vor seinem Selbstbestimmungsrecht) o r g a n i s i e r t werden. Durch optimale Verhaltensabläufe und Abstimmungen über verschiedene Bereiche hinweg. Es reicht nicht, dass vielleicht jeder einzelne seiner Berufsgruppe für sich genommen korrekt seine Pflicht tut. Statt eingefahrener Automatismen der Verantwortungslosigkeit für das Ganze brauchen wir Konzepte für ein gemeinsames Handeln - im Sinne des einzelnen Patienten.
Sie können hier eine Zusammenstellung des Newsletterteams patientenverfuegung.de zu Reaktionen auf die jüngsten Ereignisse in Berlin lesen:
http://www.patientenverfuegung.de/pv/detail.php?uid=417
Quelle: PATIENTENVERFUEGUNG NEWSLETTER vom 25.6.2006