24 Stunden als Pflegebedürftiger allein Zuhause

Pflegespezifische Themen; z.B. Delegation, Pflegedokumentation, Pflegefehler und Haftung, Berufsrecht der Pflegeberufe

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johannes
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24 Stunden als Pflegebedürftiger allein Zuhause

Beitrag von johannes » 30.01.2010, 22:42

24 Stunden als Pflegebedürftiger allein Zuhause

7:30 Uhr
ich höre Lärm auf der Straße, Hupen, quietschende Reifen, ein Martinshorn. Niemand kommt in mein Zimmer, ich liege regungslos auf meinem Bett. Wie sehr wünschte ich mir, dass mal jemand kommt und sich nach mir erkundigt. Auf ein „Guten Morgen“ muß ich schon seit einer Woche verzichten, Andrea, meine Tochter wohnt ja in München. Jetzt muß ich aber aufstehen, ich muß mal zur Toilette. Unter Schmerzen quäle ich mich mühsam aus dem Bett. Wo hab ich nur meine Pantoffel gelassen? Mein Stock ist umgefallen, wie komm ich nur an ihn dran? Wenn doch bloß jemand da wäre, der mir einen Toilettenstuhl an s Bettende schiebt, dann müsste ich nicht die 5 m zur Toilette laufen. Die Socken bleiben heute aus, ich komm nicht mehr an meine Füße. Dann muß ich eben barfuss in die Schuhe. Mühsam quäle ich mich nun zur Toilette. Mist. Ich kann s nicht mehr halten. Der Urin läuft mir am Bein herunter. Iiii, ekelig die nasse Unterhose. Saubere hab ich nicht mehr im Schrank, konnte ja lange nicht mehr waschen. Also bleibt die alte, nasse an. Sie trocknet ja wieder. In zwei Tagen kommt ja Andrea, sie hat angerufen. Wie gut, dass das Waschbecken direkt neben der Toilette ist. So kann ich mir wenigstens das Gesicht waschen. Das Handtuch sieht zwar nicht mehr besonders aus, aber bis Andrea kommt, muß es gehen. Mühsam ziehe ich mich am Waschbecken hoch, das Stehen fällt mir sehr schwer. Es ist noch etwas Toilettenpapier da und so kann ich mir den gröbsten Schmutz vom Gesäß abwischen. Wenn es verschmiert, macht das nichts, sieht ja eh keiner. Meinen Po waschen fällt aus, ich komm ja nicht richtig dran. Das kann Andrea machen, wenn sie übermorgen kommt.

8:30 Uhr
Die Nachbarin hat mir zwei Brötchen gebracht und im Plastikbeutel an die Tür gehängt, ich kann mich ja nicht mehr richtig bücken. Die hole ich mir jetzt zum Frühstück. Langsam gehe ich in die Küche und setze mich erst mal auf einen Stuhl zum Verschnaufen. Es ist noch etwas Margarine da. Für Butter langt meine kleine Rente ja nicht. Auf dem Tisch liegt noch das Messer vom letzten Frühstück. Ist zwar noch ein Rest Margarine und Marmelade dran, aber Geschirr spülen hab ich gestern nicht mehr geschafft. Ich kämpfe mit dem Brötchen. Das Messer ist stumpf und will einfach nicht ins Brötchen zum zerschneiden. Endlich hab ich eine auseinander gerissene Masse in der Hand, die lecker duftet. Die Brötchen sind tatsächlich frisch. Etwas Margarine draufschmieren und den Rest Marmelade. Furchtbar, wie schlecht man an die Marmelade kommt durch die kleine Öffnung im Glas. Den Schimmel auf der Marmelade sehe ich schon nicht mehr, meine Brille kann ich wieder mal nicht finden. Ich setze Wasser auf den Herd, um mir eine Tasse Kaffee zu kochen. Wie gut, dass es heute so was Neumodisches wie löslichen Kaffee gibt. Braucht man nicht mehr aufzubrühen. Einfach einen Löffel Pulver in die Tasse, heißes Wasser drüber und umrühren. Da ist ja noch der Kaffeelöffel von gestern. Sieben Tage dasselbe Frühstück, dazu einen Becher Kaffee.

9:00 Uhr
nun sitze ich in der Küche auf meinem Stuhl. Überall liegen alte Zeitungen, auf dem Tisch steht schmutziges Geschirr. Die Spüle ist randvoll. Ich habe einfach nicht mehr die Kraft, hier aufzuräumen. Ich mache das Radio an. Einen Fernseher kann ich mir nicht leisten.


10:00 Uhr
Inzwischen habe ich die Kaffeetasse zur Hälfte ausgetrunken. Der Rest ist kalt geworden. Durst verspüre ich nicht. Ich sitze am Küchentisch, meinen Kopf auf dem rechten Arm aufgestützt und hänge meinen Gedanken nach. Bis auf das Radio ist es still im Haus. Die Nachbarn sind auf Arbeit. Der Lärm von der Straße dringt zu mir herauf, aber viel bekomm ich nicht mehr mit. Meine Ohren haben nachgelassen.

11:00 Uhr
Was gibt es heute zum Mittagessen? Ich brauch mir keine Sorgen drum machen. Meine Tochter Andrea hat für mich „Essen auf Rädern“ bestellt. Die sind immer pünktlich. Ich weiß schon was es gibt. Das Gleiche wie gestern – jedenfalls vom Geschmack her. Ist jeden Tag gleich außer, es gibt mal was Gebratenes. Das schmeckt dann anders. Ich kann nicht verstehen, warum die immer so viel bringen. Hab doch schon oft gesagt, dass mir das zu viel ist. Hat aber nichts genützt.

12:00 Uhr
endlich kommt Leben ins Haus, das Essen wird gebracht. Es klingelt und ich schleppe mich zur Tür. Ein gestresster Mann gibt mir den Behälter und fragt, ob ich den von gestern mitgeben will. Ich bitte ihn, ihn selbst aus der Küche zu holen, weil mir doch das Gehen so schwer fällt. Schnell ist er wieder weg, ich gehe zurück in die Küche und setzte mich erst mal. Die Suppe kenn ich schon von gestern. Eigentlich ist die immer gleich, nur dass sie manchmal etwas anders aussieht. Da hat sie genau so gerochen und geschmeckt. Sie ist wie immer lauwarm. Als Hauptgericht gibt es Schinkennudeln – die haben gesagt, ich solle die im Backofen noch mal warm machen. Lass ich aber, ist mir zu mühsam. Auf den Nachtisch freu ich mich immer besonders. Mal gibt es einen Becher Joghurt, mal frisches Obst. Wie immer esse ich mein Mittagessen ohne zu trinken. Andrea hat wohl gesagt, ich solle viel trinken. Aber immer nur Wasser? Tee aufschütten hab ich schon lange nicht mehr gemacht. Mal etwas anderes kaufen? Die Getränke sind mittlerweile so teuer geworden, das kann sich ja keiner mehr leisten. Ich selbst komme ja gar nicht mehr aus dem Haus. Und die Nachbarin immer fragen – das mag ich auch nicht. Ich würde so gerne mal wieder einen Saft trinken, doch meine kleine Rente geht für Medikamente und das Essen auf Rädern drauf. Man stelle sich das mal vor, ein Mittagessen kostet mittlerweile schon 7,50 €.

13:00 Uhr
Außer dem Weg zur Tür, um das Essen rein zu holen, hab ich mich noch nicht vom Küchentisch fortbewegt. Zur Toilette musste ich auch noch nicht. Hab zum Glück nicht viel getrunken. Jeder Weg ist doch so mühsam. Da ist es besser, nicht so viel zu trinken. Es ist immer noch still im Haus, bis auf mein Radio. Aber bald wird es lebendig, dann kommen die Kinder aus der Schule und stürmen mit Gebrüll die Treppen hinauf. Wie gut, dass ich nicht mehr so gut hören kann. Das wäre sonst alles zu viel für mich.

14:30 Uhr
Ich bin eingenickt am Küchentisch. Habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Das Aufstehen fällt mir nun noch schwerer als heute Morgen durch das lange Sitzen. Ich gehe dennoch ans Fenster und sehe hinaus. Nichts, was mich interessiert. So setze ich mich wieder an den Tisch und wische ein wenig mit der Hand vor mir hin und her. Ich glaube, ich muß mal zur Toilette. Die Hose soll nicht wieder nass werden wie heute morgen. Hat ja doch ne Weile gedauert, bis sie wieder trocken war. So quäle ich mich eben nach nebenan zur Toilette.


15:00 Uhr
nun sitze ich wieder in der Küche, draußen scheint die Sonne und es ist sehr warm. Durch das Fenster sehe ich die Häuserfront auf der anderen Straßenseite. Ich würde so gerne mal in den Park um die Ecke gehen, doch wie soll ich dort hinkommen? So sitze ich nun weiter an meinem Platz vor dem Küchentisch, an dem ich schon seit heute Morgen sitze. Ich trinke aus einem schmutzigen Glas einen Schluck Wasser. Durst verspüre ich eigentlich immer noch nicht.

16:00 Uhr
ich sitze immer noch an meinem Platz am Küchentisch und das seit heute Morgen, ich bin müde und nicke ein. Ab und zu schrecke ich auf, weil ich auf die Seite gerutscht bin.

17:00 Uhr
Es ist Abendbrotszeit. Großen Hunger verspüre ich nicht. Es ist noch ein halbes Brötchen vom Morgen da. Ich schütte mir noch eine Tasse Kaffee auf, auch wenn ich danach wieder mal nicht richtig schlafen kann. Aber es ist einfach. Ich stochere noch in den Resten des Mittagessens herum. Meine Medikamente habe ich wieder mal nicht eingenommen. Vergessen. Andrea wird bestimmt wieder schimpfen. Ich weiß immer nicht, was ich wann einnehmen soll, obwohl sie mir das so gut aufgeschrieben hat.

18:00 Uhr
obwohl ich den ganzen Tag nicht viel gemacht habe und immer wieder eingenickt bin, fühle ich mich richtig müde. Ich sollte zu Bett gehen. Aber selbst das Aufstehen hierzu fällt mir zu schwer.

19:00 Uhr
jetzt endlich raffe ich mich auf und schleppe mich zu mein Bett. Es ist immer noch so, wie ich es heute morgen verlassen habe. Den Geruch im Schlafzimmer spüre ich nicht. Da fällt mir ein, dass ich besser jetzt noch mal zur Toilette gehe, damit ich in der Nacht nicht aufstehen muß. Endlich ist auch das geschafft. Bin ich froh, wieder zu liegen. Ich kann zwar kaum schlafen, hab ja den ganzen Tag gedämmert. Aber das macht mir auch nichts mehr aus. Ich hatte wieder mal einen anstrengenden Tag.

19:30 Uhr
Die Sonne scheint mit ihren letzen Strahlen über die Dächer der Häuser von gegenüber in mein Schlafzimmer. Die Jalousie ist nur halb unten, sie klemmt irgendwo. Ich muß meine Tochter Andrea mal bitten, da was zu machen. Ich liege noch lange wach.

2:00 Uhr
als ich endlich eingeschlafen bin, werde ich durch laute Sirenen aus dem Schlaf gerissen, unter meinem Fenster gab es einen Unfall und Polizei und Krankenwagen rücken mit Martinshorn an. Ich versuche zu schlafen, aber es will nicht gelingen.

3:00 Uhr
schon wieder werde ich aus dem Schlaf gerissen. Ich weiß nicht, was mich geweckt hat. Aber ich kann nicht mehr einschlafen.

5:30 Uhr
Die Berufstätigen machen sich auf den Weg zur Arbeit. Der Lärm unten auf der Straße nimmt von jetzt an ständig zu.

Und wieder beginnt ein neuer Tag

7:30 Uhr
ich höre Lärm auf der Straße, Hupen, quietschende Reifen, ein Martinshorn. Niemand kommt in mein Zimmer, ich liege regungslos auf meinem Bett. Wie sehr wünschte ich mir, dass mal jemand kommt und sich nach mir erkundigt. Auf ein „Guten Morgen“ muß ich schon seit einer Woche verzichten, Andrea, meine Tochter wohnt ja in München. Jetzt muß ich aber aufstehen, ich muß mal zur Toilette. Unter Schmerzen quäle ich mich mühsam aus dem Bett. Wo hab ich nur meine Pantoffel gelassen? Mein Stock ist umgefallen, …

Johannes Paetzold
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thorstein
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Beitrag von thorstein » 01.02.2010, 14:05

Hallo Johannes,

mir ist die Intention dieses Beitrages leider nicht klar.
Soll hier ein Einzelschicksal beschrieben werden oder geht es darum, die Situation von Pflegebedürftigen in den eigenen vier Wänden ganz allgemein darzustellen.
Oder politisch gefragt: ist das ein Beitrag zur Diskussion "ambulant vor stationär"?

johannes
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Beitrag von johannes » 01.02.2010, 18:19

Hallo thorstein,

ein Einzelschicksal kann es nicht sein, da ich viele solcher Schicksale kenne, auch aus meiner Zeit vor der Altenpflege.

Jede Medaille hat zwei Seiten. In aller Regel wird die glänzende Seite öffentlich gemacht. Der anderen Seite schämt man sich viel zu oft. Aber sie ist vorhanden. Es gibt Pflegebedürftige, die es tatsächlich gut in den eigenen vier Wänden haben. Diese werden immer in den Vordergrund gerückt. Von den anderen redet niemand.

Ja, es geht auch um ambulant vor stationär, das wie ein goldenes Kalb der Menge vorgeführt wird. Auch dieser Aspekt kommt hier zum Tragen. Es gibt ein JA zu ambulant, aber es gibt auch ein JA zu stationär. Es muß ein NEIN zu ambulant geben, wie es auch ein NEIN zu stationär geben muß. Alles andere ist Augenwischerei, die Menschen auf der Strecke bleiben läßt.

Aber vielleicht entdeckst du weitere Aspekte, über die sich nachzudenken lohnt?
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thorstein
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Beitrag von thorstein » 01.02.2010, 22:58

Hallo Johannes,

ich habe vor zwei Tagen folgenden Beitrag geschrieben:

Der Pflegemarkt wird geprägt durch viele mächtige Lobbyisten, die ihre Pfründe um jeden Preis verteidigen. Ausdrücklich nicht zu diesen Lobbyisten zählen die Pflegebedürftigen selbst, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte. Diese eigentlich absurde Feststellung erklärt wohl alle Unzulänglichkeiten des Systems.

Leider bin ich kein Ökonom aber es beschäftigen mich doch auch Fragen, die mir bislang niemand beantworten konnte.

Durch die schlechten Rahmenbedingungen entstehen ja auch enorme Kosten. Wie hoch sind die gesundheitlichen Schäden bei Pflegekräften (pflegende Angehörige eingeschlossen) einzustufen? Wieviel Kosten könnten im Gesundheitssystem eingespart werden, wenn man die Rahmenbedingungen verbessert? Ist es tatsächlich effizient, Heimbewohner von 20 verschiedenen Haus-und Fachärzten versorgen zu lassen, die aber nie präsent sind, wenn man sie tatsächlich braucht? Wieviel Krankenhauseinweisungen könnte man sich durch einen speziell ausgebildeten Heimarzt und eine angemessene Personalaustattung ersparen? Wieviel Krankenhausbetten könnten dadurch gestrichen werden?
Wieviel Arbeitsplätze würden entstehen, wenn man das Credo ambulant vor stationär ernst nehmen würde? Wie würde sich das auf die Sozialkassen auswirken?

Von einem ganzheitlichen Blick auf unser Sozial-und Gesundheitssystem, welcher auch solche Fragestellungen umfasst, ist mir nichts bekannt. Darum bin ich auch keinesfalls überzeugt, das eine Verbesserung der Rahmenbedingungen insgesamt zu mehr Kosten führen würde.


Politisch argumentiert: Das goldene Kalb "ambulant" wird ja in erster Linie aus Kostengründen favorisiert und nicht, weil es um die Wünsche der Betroffenen geht. Anders sind die unterschiedlichen Finanzierungsmodelle nicht zu erklären.

Aus meiner (pflegerischen) Sicht argumentiert: ambulant vor stationär heißt eben nicht ambulant anstatt stationär oder ambulant gegen stationär. Und ich halte es auch nach 20 Jahren in der stationären Pflege für eine Zumutung, Hochbetagte aus iher häuslichen Umgebung zu reissen, auch wenn das in vielen Fällen sinnvoll und notwendig ist. Auch wenn ich genug Beispiele kenne, wo Menschen im Heim regelrecht aufgeblüht sind.

Die pflegerischen Probleme bei deiner Situationsbeschreibung scheinen mir durchaus lösbar zu sein, bleibt das Grundproblem der Vereinsamung. Das ist aber schon gar kein altersspezifisches Problem mehr.

Lutz Barth
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Die Rolle der pflegenden Angehörigen!

Beitrag von Lutz Barth » 02.02.2010, 10:39

@Johannes: Ja es gibt weitere Aspekte, über die es sich lohnt, intensiver nachzudenken: Die Angehörigen, die oftmals völlig überfordert zu sein scheinen und von denen Empathie verlangt wird, obgleich es ihnen zur "Last" geworden ist und es sich nicht trauen, dies auch in der Öffentlichkeit zu propagieren - in einer Öffentlichkeit, in der zunehmend zivilgesellschaftliches Engagement eingefordert wird, wohlwissend darum, dass ansonsten tatsächlich gravierende Änderungen nicht nur im Gesundheitsbereich mit seinen vermeintlich katastrophalen ökonomischen Rahmenbedingungen erforderlich sind. Forschungsprojekte um Forschungsprojekte werden aufgelegt und es fragt sich, was hierdurch eigentlich "Neues" zutage gefördert wird?

Unsere Gesellschaft hat bisher auf keine Einzelschicksale Rücksicht genommen und dies setzt sich mit Blick auf die Gruppenschicksale fort; es fehlt an dem Willen, schlicht die Probleme zu lösen und da macht es denn auch Sinn, die hochaltrigen Pflegebedürftigen für die jeweiligen Zwecke zu instrumentalisieren - sei es nun im Rahmen von Forschungsprojekten, die in erster Linie zur weiteren Absicherung der eigenen Reputation sachdienlich sind oder im Sinne eines Kulturkampfes um die Würde eines Menschen, bei der die Würde je nach Facon beliebig interpretiert werden kann.

Keine gute Aussichten ... weder für die Hochaltrigen noch für uns, die wir später einmal das gleiche Schicksal erleiden werden und da ist es fast schon von untergeordneter Bedeutung, über den Grundatz "ambulant vor stationär" oder vielleicht doch anders herum nachzudenken.
Wir vertreten nicht immer die herrschende Lehre!

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Beitrag von Elke » 03.02.2010, 03:00

Seit sechs Jahren lebt Soenke Schöpke im Wachkoma.
Seine Frau gibt gern ihre Erfahrungen weiter.


Wichmannsdorf (OZ) - „...Ein bisschen mehr wir und weniger ich, ein bisschen mehr Kraft und nicht so zimperlich, und viel mehr Blumen während des Lebens, denn auf den Gräbern sind sie vergebens.“ „Dieser Spruch hat mir schon immer gefallen“, sagt Monika Schöpke. Sie hatte das noch längere Gedicht schon vor dem Schicksalsschlag, der ihr ganzes Leben veränderte, in ihrer Plattenbauwohnung in Kröpelin hängen. Wo sie mit ihrem Mann, einem ehemaligen Kraftfahrer bei der Melioration, und den drei Jungs wohnte. Dann hörte sie eines Tages im Jahr 2004 im Zimmer ein Poltern und fand ihren Soenke, mit dem Erstickungstod kämpfend. „Ich dachte damals, das war‘s dann. Dabei hatten wir uns vier Wochen vorher gerade wieder zusammengerauft, mein Mann ist sehr eifersüchtig — wir hatten uns vertragen und dann passiert das...“ Heute sitzt die 55-Jährige in der Küche ihres Eigenheimes in Wichmannsdorf und trinkt Tee aus einer Tasse, auf deren einer Seite zu lesen ist: „Mutti hat das Sagen“:

„Die Ergotherapie ist heute Morgen schon durch, gegen Mittag kommt die Physiotherapie — ich habe eigentlich keinen Tag-Nacht-Rhythmus mehr“, sagt die Frau und schaut auf ihren Mann. Der 58-Jährige räuspert sich laut — er lebt seit sechs Jahren im Wachkoma. „Alle vier Stunden, auch nachts, gebe ich ihm flüssige Nahrung und Insulin, ab und zu drehe ich ihn und wechsle regelmäßig das Inkontinenz-Material“, erzählt Monika Schöpke — sie trinkt noch etwas Tee: „Papi ist der Boss“, steht auf der anderen Tassenseite.

mehr ..............

http://www.ostsee-zeitung.de/mecklenbur ... id=2671798
Ehemann Hirnblutung 1995, Hemiplegie rechts, schwere Globalaphasie, Epilepsie, Pflegestufe 3. Pflege Zuhause

johannes
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Beitrag von johannes » 03.02.2010, 09:01

Hallo thorstein,

Du schreibst:

"Der Pflegemarkt wird geprägt durch viele mächtige Lobbyisten, die ihre Pfründe um jeden Preis verteidigen."

Ich denke, das ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Oft denke ich, es ist der kleinste Teil.

Ist es nicht so, daß es ohne die von allen - zumindest den meisten - gewollte gesamtgesellschaftliche Entwicklung gar keinen Pflegemarkt gäbe? Würden wir nicht bei anderer Entwicklung noch heute in intakten Familienverbünden leben, mehrere Generationen unter einem Dach? Nicht daß es da auch Ab- und Ausgrenzungen gegeben hätte, aber das Geld hätte wohl keine Rolle gespielt.

Wenn wir noch tiefer graben, versuchen an die Wurzeln zu kommen, finden wir vielleicht eine noch weit bedeutendere Ursache für die heutige Situation. Ein Theologe sagte einmal, wir leben in der nachchristlichen Zeit. Einer Zeit, in der wohl christliche Grundelemente noch vorhanden sind, weil wir ohne sie nicht überleben würden, aber die wesensmäßige Verbundenheit damit verloren gegangen ist.

An vielen anderen Stellen wird von einer immer mehr zunehmenden Leere gesprochen, innerlich und äußerlich. Wir schlagen emotional die Hände über den Kopf, sind aber unfähig geworden, adäquat zu handeln. Unser Verstand sagt, was getan werden müßte, aber wir tun es nicht. So viele Themen hier zeigen auf, daß wohl alle Bescheid wissen - aber es geschieht nicht das, was sie offensichtlich erkannt haben.

Wir sind handlungsunfähig geworden. Unser Wissen sagt, was zu tun ist, unser Empfinden sagt uns, was zu tun ist - aber wir tun es nicht mehr. Da nützen uns die Qualitätszirkel nichts, wenn gleichzeitig Personal outgesourct wird, Arbeit verdichtet wird, Gewinne gesteigert werden sollen, Strafen angedroht werden, Mißstände öffentlich gemacht werden.

Vor zweitausend Jahren wurde uns gesagt: "Einer trage des anderen Last". Wie soll man aber des anderen Last tragen, wenn man nicht mehr in der Lage ist, die eigene Last zu tragen? Ja, wenn wir unsere Last erleichtern könnten, indem wir sie weitergeben - an jemand, der alle Lasten tragen kann - dann könnten wir auch wieder mithelfen, des anderen Last zu tragen. Aber so?
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thorstein
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Beitrag von thorstein » 04.02.2010, 19:54

Hallo Johannes,

die religiöse Dimension ist nicht mein Zugang zu den angesprochenen Themen. Gerade die Geschichte des christlichen Amtskirche ist eine machtbesessene, inhumane und blutige. Die Säkularisierung ist daher eine durchaus nachvollziehbare Reaktion auf den durch die Kirche selbst verursachten Werteverlust.

Die Grossfamilie war in bestimmten Lebensräumen eine notwendige Überlebensstrategie, geprägt durch eine hohe Kindersterblichkeit und eine durchschnittliche Lebenserwartung von 40 Jahren. Diese Strukturen waren streng hierarchisch und patriarchalisch, individuelle Freiräume und Entwicklungsspielräume gab es keine.

Man stelle sich solche Grossfamilien mit der heutigen medizinischen Versorgung und der heutigen Lebenserwartung vor.

Historisch betrachtet leben wir in einem Paradies, niemand muss mehr ums nackte Überleben kämpfen und das bei einer Lebenserwartung von über 80 Jahren. Die Frage ist nun: was machen wir daraus. Ich denke: zu wenig.

Als Wertehorizont begnüge ich mich mit dem Grundgesetz. Und hier besteht gegenüber den Pflegebedürftigen eine Schieflage, die dringend beseitigt werden muss.

Lutz Barth
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Religiöser Zugang!?

Beitrag von Lutz Barth » 04.02.2010, 21:08

@Thorstein: Nun - selbst als Religionskritiker würde ich allerdings den Gedanken von Johannes in einer säkularen Gesellschaft dahingehend interpretieren wollen, dass die christliche Nächstenliebe durchaus mit einer humanitären Vorstellung von Solidarität und Empathie vergleichbar ist, die eben nicht nur den Christen vorbehalten ist. Gesellschaftskritisch wird also die Frage zu vertiefen sein, ob unsere Gesellschaft bereit ist, die auf sie zukommenden Lasten zu schultern und vor allem zu meistern. Mal abgesehen von den gesundheitsökonomischen Konsequenzen darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass künftig die Hochaltrigen gerade aufgrund des demografischen Wandels perspektisch eine bedeutsdame Rolle im Machtgefüge unserer Gesellschaft spielen werden und damit ggf. auch politische Herrschaft auszuüben in der Lage sind. Insofern werden künftig die Rahmenbedingungen vornehmlich auch durch die Hochaltrigen vorgegeben und was liegt es da näher, ihre ureigenen Interessen (etwa im Vergleich zur jungen Generation!) durchzusetzen.

Sofern es zu einem Generationenkonflikt kommen sollte, wird die Frage, wer letztendlich des Anderen Last zu tragen hat, eher unspektakulär entschieden: um die Gunst des hochaltrigen Wählerpotentials wird gebuhlt und da kann ich mir vorstellen, dass Zugestände in Größenordnungen gemacht werden.

Freilich sind dem christlichen Ethos und der damit verbundenen Lehre Grenzen gesetzt, da insoweit unsere Wertmaßstäbe sich nicht expressis verbis hieraus generieren, wenngleich doch in Teilen das Recht seine Inhaltbestimmungen auch aus der "Moral" zu beziehen vermag - gleich, auf welche Erkenntnisquellen diese beruht.

Im Übrigen scheint hier es hier wenig zielführend zu sein, die Geschichte zu kontextualisieren, denn es gab ja auch Zeiten und Völker, in denen Kranke schlicht am Fluß gebettet wurden, um dann mit der Flut hinfortgespült zu werden. Allerdings ist der Gedanke der "Großfamilie" gar nicht mal so weit weg: ich erinnere mich ganz spontan an aktuelle Berichte - speziell in katholischen Medien -, die neben dem programmatischen Grundsatz "seid fruchtbar und mehret euch" zugleich damit die Vorstellung verbinden, dass hierdurch letztlich auch dem christlichen Ethos in der Gesellschaft mehr Bedeutung zuwächst.

Andererseits könnte auch ein Schelm auf die Idee verfallen, dass ein Teil der Pflegebedürftigkeit eben auch einem sittlich nicht genehmen Lebenswandel geschuldet ist, bei dem das eine oder andere Laster über Gebühr gefrönt wurde so wie überhaupt einige Krankheiten sich nur deshalb ausbreiten konnten, weil etwa bestimmte Völker zu viel "schnackseln" - so jedenfalls eines Stimme aus dem bayerischen Hochadel. Enthaltsamkeit, Mäßigung - alles ehrenwerten, aber vor allem auch dem christlichen Mythos von Sittlichkeit entsprechenden Verhaltensvorgaben - die, wenn sie denn beachtet werden würden, wohl ein stückweit den Pflegekollaps zu vermeiden helfen.

Sei es drum: ich neige natürlich der Auffassung zu, dass ein Blick in das Grundgesetz hier die ethische Entscheidungsfindung erleichtert und wir daher an die grundrechtlichen Schutzverpflichtungen des Staates zu erinnern haben, so wie die Politiker eben auch zu rationellen Entscheidungen aufgefordert sind, die eben nicht darin bestehen, aberwitzige Milliardenbeträge zu "verbrennen".

Die existentiellen Grundrechte - ob nun diejenigen der Hochaltrigen oder der "Jungen" - werden hierzulande verteidigt und sofern das vom Wirtschaftswunder geprägte schöne Deutschland nicht mehr in der Lage ist, existentielle Daseinsvorsorge zu leisten, sollten schnellstens die Konsquenzen gezogen werden. Wir brauchen keine Eliten, die in ihren Elfenbeintürmen Sonntagsreden halten.

Mfg.
Wir vertreten nicht immer die herrschende Lehre!

thorstein
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Beitrag von thorstein » 04.02.2010, 23:06

Sehr geehrter Herr Barth,

jeder sucht ja – menschlich nachvollziehbar – den Kontext, der in sein Weltbild und oder zu seiner Argumentation passt. Hier sind in den letzten Beiträgen ja mit wenigen Sätzen so viele Fässer aufgemacht worden, dass eine nachvollziehbare Antwort schon schwierig wird.

Zur gesundheitsökonomischen Debatte hatte ich ja einige Fragen aufgeworfen. Einen Generationskonflikt wird es meiner Ansicht nach nicht geben. Jeder hat nun mal Eltern und Grosseltern. Die Grauen Panther sind nicht ohne Grund gescheitert. Umverteilungskonflikte zwischen Reich und Arm halte ich da nach wie vor für wahrscheinlicher.

Der Umgang mit Pflegebedürftigen sagt durchaus etwas über das humanitäre Selbstverständnis einer Gesellschaft aus. Dieses humanitäre Selbstverständnis muss sich ja gerade dann bewähren, wenn die Zeiten härter oder die Kassen leerer werden. Die derzeit wirkmächtigen Strategien und Mechanismen, die den Pflegenotstand weiterhin zu einer Randnotiz im gesamtgesellschaftlichen Problembewusstsein degradieren, können einen dabei durchaus das Fürchten lernen.

Wasser zu predigen und Wein zu trinken gehört inzwischen zum Standardrepertoire jedes Provinzpolitikers. Die Frage ist doch, ob zum Beispiel der Anspruch auf körperliche Unversehrtheit verhandelbar ist? In der derzeitigen Pflegepolitik ist das aber längst gängige Praxis.

Lutz Barth
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Ist körperliche Unversehrtheit "verhandelbar"?

Beitrag von Lutz Barth » 05.02.2010, 09:40

Ja - verehrter Herr Thorstein - ist sie! Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass auf unverfassungsrechtlicher Ebene auch die Grundrechte mit "Schranken" versehen werden können und nach hiesigem Verständnis scheint auch ganz allgemein die "Würde" des Menschen verhandelbar zu sein, auch wenn dies bisher stets "geleugnet" wird. Dass selbst der Gesetzgeber hierbei den Versuchungen nicht zu widerstehen mag, kann an dem Luftverkehrssicherheitsgesetz illustriert werden, wo unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr (Terrorismus) auch ein bemanntes Flugzeug zum Abschuss freigeben werden sollte; wir hatten es seinerzeit dem BVerfG zu verdanken, dass hier der Gesetzgeber in seine, von der Verfassung vorgebenen Schranken verwiesen wurde. Im Übrigen zeigt uns die leidenschaftliche Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch und die beiden großen Entscheidungen des BVerfG, dass auch die "Würde", die nach dem grammatikalischen Wortlaut unantastbar sein soll, gelegentlich "antastbar" ist; vielfach ist es eben nur eine Frage der "Interpretation" und damit Auslegung eines unbestimmten Rechts- oder Verfassungsbegriffs, so wie eben auch das "allgemeine Lebensrisiko" eines hochaltrigen Patienten dazu führen kann, dass er trotz einiger Obliegenheitspflichten ambulanter oder stationärer Einrichtungen Einschnitte und Gefährdungen in seine physische und psychische Integrität hinnehmen muss. Wenn Sie so wollen, findet auch hier eine Form von "Priorisierung" statt: das wirtschaftlich Machbare und das personell Zumutbare setzten den Rechten der Patienten Grenzen und da erscheint es doch höchst angenehm zu sein, dies auch noch mit der "Lebensqualität" eines hochaltrigen Patienten begründen zu können, genießen doch u.a. die Freiheitsrechte einen verfassungsrechtlich hohen Rang.
Nun - wenn`s denn der Sache dient. Provokatorisch könnte denn hier angemerkt werden, dass das "Recht" etwa zur psychischen Krankheit zugleich auch dafür Sorge trägt, dass künftig der Inhaber dieses Rechts "auf Wolke Sieben sitzt und Harve spielt" und demzufolge dem Gesundheits- resp. Pflegesystem nicht mehr zur "Last" fällt!

Mit Blick auf den Generationskonflikt scheint mir Ihre Analyse ein wenig verfrüht zu sein. Das Konfliktpotential liegt in dem Wesen einer parlamentaisch-repräsentativen Demokratie begründet, zumal die hohe Lebenserwartung nicht stets mit kognitiven Einbußen einhergeht und im Übrigen die Basis der Beitragszahler immer schmaler wird. Da erscheint es mir jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass auch die hochaltrige Generation bei ihren Wahlentscheidung künftig darauf abstellt, wer letztlich ihre Interessen nachhaltig vertritt. Stellen diese in der Konsequenz ein beachtliches Wählerpotential, wird man/frau sich mit diesen Mehrheiten als aufrechter Demokrat zu arrangieren haben.

Dies gilt im Übrigen auch für die gewünschte Ausrichtung politischer und gesetzgeberischer Entscheidungen, bei denen nicht selten die Grundsätze der christlichen Ethik vermisst werden. Die Wahlanalyse hat wohl deutlich zutage gefördert, dass gerade die christlichen Stammwähler dem konservativen Lager einstweilen ihre Gefolgschaft versagt hat und wenn ich es recht überblicke, dann bewegen wir uns ferner auf eine Zivilgesellschaft zu, in der u.a. den an Demenz Erkrankten ein Mehr an Partizipation eingeräumt wird. Dies wird nicht ohne Folgen für unsere Demokratie und damit für richtungsweisende Entscheidungen bleiben.

In der Sache selbst verbleibt es aber wohl dabei: Auch Rechte und hier näher die Grundrechte sind im Rahmen der Verfassung durchaus bis zur Grenze ihres Wesensgehaltes (arg. Art. 19 GG) "verhandelbar", mithin also auch das Recht der körperlichen Unversehrtheit oder Ansprüche, die bisher wie selbstverständlich aus dem Sozialstaatsprinzip generiert wurden.
Wir vertreten nicht immer die herrschende Lehre!

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Beitrag von johannes » 05.02.2010, 18:39

Nun, thorstein,

als erstes sollte man Kirchen nicht mit christlich verwechseln. Soweit ich das beurteilen kann, sind sie Machtkonstellationen wie andere politische Systeme auch. Das hat noch nichts mit "christlich" zu tun.

Wer christlich handeln will, muß sich schon die Mühe machen, an der Quelle nachzufragen, was das ist - jedenfalls nicht das, was die "Amtskirche" ausmacht.

Wenn in bestimmten Lebensräumen die Lebensspanne im Bereich um 40 Jahre lag - in der jüngeren Vergangenheit - ist das m. E. nicht repräsentativ. Bei entsprechender Lebensführung wird bereits in der Antike von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren gesprochen. Und das war keineswegs einer angeblich "überragenden" medizinischen Versorgung zugeschanzt. Aber das war vorvorgestern.

Heute habe wir ein anderes Problem. Wer einmal den Untergang großer Völker in der Antike unter die Lupe nimmt wird feststellen, daß der Niedergang immer dann einsetzte, wenn man sich "zu wohl" gefühlt hatte. Das hat sich bis heute offensichtlich nicht geändert. Die größten Probleme mit den alten Menschen beobachten wir in den sog. "Wohlstandsstaaten". Und das sollte zu denken geben.

Du begnügst dich mit dem Grundgesetz als Wertehorizont. Ist ja nicht das Schlechteste. Und woraus wurde das Grundgesetz entwickelt? Ganz klar aus der christlichen Ethik - und ich betone noch mal - das hat mit den Kirchen nichts zu tun außer ihrem Titel "christlich".

Sehen wir weg von den Kirchen auf den Anfang, dann wird uns gesagt, daß einer auf den anderen Rücksicht nehmen soll, für den anderen da sein soll, dem anderen aufhelfen soll, zusammengefaßt - den anderen lieben soll. Ich kann an diesem Anspruch nichts verwerfliches finden. Reden darüber bringt nichts, wie auch hier das Jammern über unbefriedigende Zustände etwas bringt. Diese Anforderungen umsetzen, das bringt Veränderungen. Dafür setze ich mich übrigens in meinem Umfeld ein, so gut das unter den Gegebenheiten machbar ist.

Bei uns beginnt Menschenwürde eben nicht erst beim Pflegebedürftigen, sondern bereits beim Pflegenden. Wer würdig behandelt wird, kann Würde entfalten und Würde weitergeben. Ist eine einfache, funktionierende Kettenreaktion. Wir reden nicht, wir handeln. Das macht für mich den Unterschied. Ich lebe nach der Prämisse: Das Bessere ist der größte Feind des Guten.
Ein Mensch funktioniert nicht - er lebt!

Lutz Barth
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So klar ist das aber nun nicht...

Beitrag von Lutz Barth » 05.02.2010, 22:07

dass das Grundgesetz aus der christlichen Ethik heraus entwickelt worden ist, auch wenn sicherlich zu konzedieren ist, dass das Christentum einen Beitrag zu einem modernen Rechtsstaat geleistet hat, auch wenn es hierzu gegen den Widerstand speziell einer Amtskirche längerer Zeit bedurfte.

Wo aber bitte, verehrter Johannes, ist denn der "Anfang" verortet? Wer sagt uns, dass wir einander helfen usw. sollen, oder wie Sie auf den Punkt bringen: einander lieben sollen?

Und welchen Einfluss zeitigt dieser Anfang auf die "Würde", zumal doch klar sein dürfte, dass die "Würde" trotz aller Unbestimmtheit ihres Begriffs Jedem zukommt und Ihr Hinweis, dass gleichsam eine "Kettenreaktion" ausgelöst werde, eben nicht (!) zutreffend ist, da mit dem "Würdebegriff" allerlei Unwägsamkeiten verbunden sind, mal ganz davon abgesehen, dass die Idee von der Würde des Menschen sich aus mannigfalten Entwicklungslinien heraus interpretieren lässt und somit der Hinweis auf den "Anfang" wohl doch eher einem Zweckoptimismus geschuldet ist.

Ist es vielleicht der kategorische Imperativ und damit die Erinnerung an die praktische Vernunft Kants, die Sie zu der These veranlassen: "Wer würdig behandelt wird, kann Würde entfalten und Würde weitergeben."

Ist damit die Würde von Bedingungen abhängig? Wie ist der Fall zu beurteilen, wenn jemand nur in Teilen würdig behandelt wird, kann oder darf er dann auch "nur" in Teilen Würde entfalten und weitergeben - portionsgerecht - also mal mehr oder weniger, je nach dem Grad seiner ihm zuteil gewordenen "Würde"?

Oder ziehen Sie sich auf die Gottenebenbildlichkeit zurück, so dass die Würde ganz in dem christlichen Ethos aufzugehen scheint?

Nun - ich halte es da lieber mit unserem Grundgesetz, aus dem sich die Werte ablesen und im Übrigen auch weiterhin generieren lassen können, denn die Verfassung - im Übrigen auch nicht der Würdebegriff - ist aus guten Gründen statisch.
Wir vertreten nicht immer die herrschende Lehre!

Brigitte Bührlen
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Menschen brauchen Menschen

Beitrag von Brigitte Bührlen » 07.02.2010, 01:44

Die Entwicklung dieser Diskussion ist interessant.
Ausgehend von der wirklichkeitsähnlichen Tagesverlaufschilderung eines pflege- bzw hilfsbedürftigen alten Mannes entwickeln sich die folgenden Beiträge über einige Tage hinweg in immer geistreichere theologisch philosophische Höhen. Wo war doch gleich der Basisbezug?

Ich habe meine demenzerkrankte Mutter 7 Jahre zu Hause und 13 Jahre durch zwei Heime begleitet.
Seit ca. 15 Jahren leite ich u.a. Angehörigenselbsthilfegruppen, fahre Essen auf Rädern aus, bin im Vorstand einer Nachbarschaftshilfe sowie Heim-und Angehörigenbeirat
Auf Grund meiner eigenen Erfahrung und der langjährigen praktischen Anteilnahme an vielen "Pflegeschicksalen" bin ich zu dem banal erscheinenden Schluss gekommen: kein Lebensumstand gleicht dem anderen.

Unser Beratungs-, Hilfs-. Koordiations- und Pflegesystem aber ist wenig individuell und praxisbezogen. Es ist starr, schematisch, auf maximale Ökonomisierung ausgelegt.
Wenige bestimmen über Viele.

Eine Veränderung in Richtung emphatischer, individuell geplanter und durchgeführter Pflege tut not, die den Schwerpunkt auf eine adäquate Mensch zu Mensch Betreuung legt und deren Qualitätsmerkmal neben Professionalität auch die "gefühlte Menschlichkeit" ist .
Diese Veränderung muss meiner Überzeugung nach von den betroffenen Menschen und ihren Angehörigen und Mitmenschen selbst eingefordert werden.
Es muss und wird sich eine Lobby der Betroffenen bilden, die selbst für ihre Bedarfe eintritt. Ein Generationswechsel ist im Gange, die Zeit des Duldertums läuft ab.
Wofür werden die Solidar-und Privatgelder der Pflegebedürftigen verwandt? Wer hat Mitsprach-, Mitbestimmungs- und Kontrollrechte über die Gelderverwendung?
In erster Linie ist das eingebrachte Geld in eine ausreichender Zahl von (auch menschlich) qualifizierten Pflegekräfte zu investieren, die unsere Angehörigen, Mitmenschen und uns selbst in einer dem Grundgesetz entsprechenden Weise versorgen und betreuen können.
Wir brauchen eine suffiziente ambulante häusliche Versorgung, Tagespflegen, Kurzzeitpflegen, betreute Wohnformen, Wohngemeinschaften, Heime und weitere bedarfsorientierte Versorgungs-und Betreuungsangebote.

Die Zeit läuft uns davon, wir müssen handeln.

johannes
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Beitrag von johannes » 07.02.2010, 10:24

Richtig, Brigitte,

ich erlebe es immer wieder, daß auf praktische Ansätze theoretische und hochwissenschaftliche Antworten kommen. Die Problematik ist ja nicht unbekannt, aber manchen scheint das Diskutieren eben wichtiger als das Handeln.

Ich für mein Teil teile Ihre Aussage, daß wir ein Netzwerk der Versorgung mit Tagespflegen, Kurzzeitpflegen, betreute Wohnformen, Wohngemeinschaften, Heime und weitere bedarfsorientierte Versorgungs-und Betreuungsangebote benötigen und leiste meine praktischen Beitrag hierzu.

Hier werden ausreichend Mitarbeiter beschäftigt. Hier werden mehr Mitarbeiter ausgebildet, als im eigenen Betrieb benötigt werden, da nun mal gute Pflegekräfte nicht auf den Bäumen wachsen. Hier werden Arbeitszeiten praktiziert, die es den Mitarbeitern ermöglicht, Mensch zu bleiben und nicht mehr nur zu funktionieren. Hier werden Angehörige eingebunden, wo diese sich einbinden lassen. Hier wird Nachbarschaftshilfe gern angenommen. Hier wird SGB XI § 28 umgesetzt.
Ich sehe mich als Praktiker, der nicht nur verändern will, sondern verändert.

Was ich mir wünschte, wären mehr Praktiker an meiner Seite, die vielleicht auf Grund ihrer Größe auch mehr Macht ausüben könnten, um große Umwälzungen realisieren zu können. Wir brauchen keine Schwätzer in Talkshows sondern solche, die anfangen zu handeln. Es kann Großes geschehen - wenn nur der Wille da wäre. An diesem Willen aber zweifle ich.

Darum handle ich lieber in meinem kleinen Umfeld konsequent nach christlichen Grundsätzen. Meine Mitarbeiter und unsere Bewohner wissen um die Auswirkungen. Und das muß mir wohl reichen.
Ein Mensch funktioniert nicht - er lebt!

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