BARMER GEK Arzneimittelreport 2011
Fragwürdige Verordnungen für Frauen, Demente und Alkoholabhängige
Berlin - Bedenkliche Trends stehen im Mittelpunkt des neuen BARMER GEK Arzneimittelreports: Demnach erhalten knapp 14 Prozent der alkoholabhängigen Menschen in Deutschland starke Schlafmittel mit hohem zusätzlichen Suchtpotential verordnet. Jeder dritte Demenzkranke bekommt regelmäßig starke Beruhigungsmittel – trotz erhöhtem Sterblichkeitsrisiko. Und fast die Hälfte der 20 absatzstärksten Antibabypillen des Jahres 2010 enthalten neuartige Hormone mit einem doppelt so hohen Thromboembolierisiko wie bewährte ältere Präparate.
Der Autor der Studie, Professor Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, sieht die Entwicklung mit Sorge: „Sowohl bei neuen patentfähigen Antibabypillen, bei Neuroleptika für demenzkranke Menschen als auch bei Benzodiazepinen für alkholkranke Menschen gibt es seit Jahren klare Gegenanzeigen und Warnhinweise. Trotzdem wird weiter in kritischer Größenordnung verschrieben.“
Ausgabentreiber und Einsparpotentiale
Mit Blick auf die in den vergangenen Monaten zurückgehenden Arzneimittelausgaben bemerkt der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der BARMER GEK, Dr. Rolf-Ulrich Schlenker: „Die Arzneimittelgesetzgebung 2010 hat die Ausgabenzuwächse etwas gedrosselt. Gleichwohl beobachten wir eine beinah ungebremste Dynamik im Bereich der Biologicals. Hier liegen die Umsatzsteigerungen bei den Top-Sellern auch in den ersten vier Monaten 2011 über 10 Prozent. Wir müssen unbedingt die Erfolgsgeschichte der Generika wiederholen und die Biosimilars breiter einsetzen.“
Tatsächlich erzielten die so genannten Biologicals (gentechnisch hergestellte Spezialpräparate z. B. gegen Rheuma, Multiple Sklerose, Krebs) im Jahr 2010 Steigerungsraten zwischen 8 und 17 Prozent – trotz Kosten dämpfender Maßnahmen. Hier liegen die Jahrestherapiekosten häufig im fünfstelligen Bereich. Entsprechend asymmetrisch fällt das Ausgabenprofil aus: Auf 0,84 Prozent aller Versicherten entfallen 30 Prozent der Arzneimittelausgaben.
Pharmaexperte Glaeske macht noch erhebliche Einsparpotentiale aus. „Allein eine Steigerung der Generikaquote von heute 85 auf 90 Prozent verspricht Einsparungen von 500 Millionen Euro jährlich.“ Im Jahr 2010 habe der Einsatz von Nachahmerpräparaten rund 10 Milliarden Euro eingespart. Für die Nachahmer der Biologicals, die sogenannten Biosimilars, sieht Glaeske zusätzliche Einsparpotentiale zwischen 20 und 25 Prozent. Dabei liegen Hoffnungen auf Verordnungsquoten für Biosimilars. Glaeske: „Als effiziente und qualitätssichernde Instrumente der Kostensteuerung werden Biosimilar-Quoten auf KV-Ebene immer wichtiger, das machen auch die regionalen Verordnungsanalysen des Reports deutlich.“
Versorgungsstrukturgesetz als Wettbewerbsbremse
Gleichzeitig bemängelt Kassenvize Schlenker einige finanzielle Risiken und wettbewerbsschädliche Bestimmungen im aktuellen Referentenentwurf zum Versorgungsstrukturgesetz. Die neue spezialärztliche Versorgung sei grundsätzlich zu begrüßen. Ohne Bedarfsplanung und Mengensteuerung könne dieser Bereich aber schnell zum Kostentreiber sowohl bei den Honoraren als auch in der Arzneimittelversorgung avancieren. Besonders kritisch bewertet Schlenker die geplanten aufsichtsrechtlichen Einschränkungen im selektivvertraglichen Bereich: „Seit Jahren schließen wir individuelle Verträge zur integrierten Versorgung, zuletzt auch mit der Pharmaindustrie. Im Falle bundesweiter IV-Verträge sollen diese Vereinbarungen künftig mit maximal 17 Aufsichtsbehörden abgestimmt werden. Hier muss im Gesetzgebungsverfahren unbedingt nachgebessert werden. Sonst wird das zarte Pflänzchen Vertragswettbewerb schnell verdorren.“
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Ausgewählte Ergebnisse
Benzodiazepine bei Alkoholabhängigkeit:
Der Anteil aller weiblichen Versicherten mit einer Schlafmittel-Verordnung aus der Familie der Benzodiazepine lag 2010 bei sechs, bei männlichen Versicherten bei vier Prozent. Unter den Versicherten mit einer diagnostizierten Alkoholabhängigkeit wurden indes rund 12 Prozent der Männer und 18 Prozent der Frauen Benzodiazepine verordnet. Patienten erhalten diese Schlafmittel häufig im klinischen Alkoholentzug, allerdings auch danach zur Behandlung von Schlafstörungen und Angstsymptomen. Für einen längerfristigen Einsatz bei Alkoholabhängigkeit gelten diese Medikamente wegen des eigenen Suchtpotentials und der Verstärkung der beruhigenden und antriebshemmenden Effekte von Alkohol (Gangunsicherheit, Hang-over-Effekte, kognitive Einschränkung, Fahruntüchtigkeit, Sturz- und Unfallgefahr) allerdings als ungeeignet. Konservative Schätzungen gehen von rund 1,6 Millionen alkoholabhängigen Menschen in Deutschland aus.
Neuroleptika:
Demenzkranke erhalten sechsmal häufiger Neuroleptika als Patienten ohne Demenz. Gleichzeitig ist seit Jahren bekannt, dass Demenzkranke nach Einnahme von Neuroleptika eine 1,6- bis 1,7-fach erhöhte Sterblichkeitsrate gegenüber der Placebogruppe aufweisen. Gesundheitsexperte Glaeske: „Hier erhält eine Patientengruppe mit erhöhtem Sterblichkeitsrisiko Medikamente, deren Wirksamkeit teilweise nicht belegt ist und deren Folgen bei Langzeitgabe weithin ungeklärt bleiben."
Antibabypille:
Gut 50 Jahre nach Einführung der Antibabypille ist die hormonelle Verhütung Standard. Regionale Erhebungen demonstrieren eine eindrucksvolle Verbreitung. Je nach Region erreicht die Verordnungsrate unter 12- bis 15-jährigen Mädchen bis zu 16 Prozent. Unter den 16- bis 19-jährigen Frauen variiert der Verordnungsanteil zwischen 47 und 74 Prozent. Umso fragwürdiger, dass viele neuere Präparate, auch Top-Seller, ein vergleichsweise hohes Thromboembolierisiko aufweisen. Frauen im gebärfähigen Alter, die keine Antibabypille einnehmen, haben ein Risiko von 3 bis 5 pro 100.000 Frauenjahre. Mit den Pillen der 2. Generation steigt das Risiko auf rund 20 pro 100.000 Frauenjahre. Bei den neuesten Pillen der dritten Generation kommt es nach aktueller Studienlage bei gleich guter Wirksamkeit und Zuverlässigkeit zu einer Verdopplung oder gar Verdreifachung des Risikos gegenüber den älteren Präparaten der zweiten Generation. Pharmaexperte Glaeske: „Erprobte Pillen der zweiten Generation bleiben die Mittel der Wahl, bei allen anderen Pillen sind die Risiken höher oder schwer abschätzbar."
Regionale Verteilung Biosimilars:
Bei den Biosimilar-fähigen Biologicals fallen starke regionale Unterschiede auf. Der Biosimilar-Anteil beim Biological Epoetin, das bei Nierenerkrankungen eingesetzt wird, variiert zwischen 16 und 69 Prozent (Saarland versus Bremen). Bundesweit liegt hier der Biosimilar-Anteil schon bei 52 Prozent. Dagegen liegt der Biosimilar-Anteil beim Biological Somatropin (Indikation: Minderwuchs) für ganz Deutschland erst bei knapp 5 Prozent, wobei in Rheinland-Pfalz bereits über 30 Prozent, in Bayern oder Niedersachsen aber gerade 1,3 bzw. 1,8 Prozent erreicht werden.
Quelle: Pressemitteilung vom 15.06.2011
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