Urteil:
Herausgabe medizinischer Unterlagen an den MDK
Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 28. Februar 2007 (Az.: B 3 KR 12/06 R) entschieden, dass Krankenkassen den Anspruch auf Herausgabe von Unterlagen an den MDK aus eigenem Recht und in eigenem Namen geltend machen können.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die klagende Krankenkasse machte im Wege einer Stufenklage gegenüber dem beklagten Universitätsklinikum in der ersten Stufe die Herausgabe von medizinischen Unterlagen an den MDK zwecks Prüfung der sachlichen Richtigkeit der Abrechnung geltend, in der zweiten Stufe, abhängig vom Ergebnis der Prüfung, einen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte. Der Klage voraus ging die Durchführung von Stammzellentransplantationen bei acht bei der Klägerin Versicherten im Jahre 2000 durch die Beklagte. Die Klägerin bezahlte zunächst die berechneten Fallpauschalen der Gruppe 11, vermutete jedoch später, dass die Beklagte eine Therapie durchgeführt habe, die nicht der Definition dieser Fallpauschalengruppe entspreche, so dass eine Abrechnung nach tagesgleichen Pflegesätzen hätte erfolgen müssen. Die Klägerin beauftragte den MDK Baden-Württemberg mit der Überprüfung der Fälle. Die Beklagte lehnte mehrmals die Herausgabe von Behandlungsunterlagen an den MDK ab, so dass dieser den Prüfauftrag unerledigt an die Klägerin zurückgab.
Am 27. Dezember 2002 klagte die Klägerin vor dem Sozialgericht München in der ersten Stufe auf Feststellung, dass die Beklagte zur Herausgabe der Unterlagen an den MDK Bayern verpflichtet sei, in der zweiten Stufe auf Zahlung sich eventuell ergebender Rückforderungsansprüche. Nach Verweis an das SG Stuttgart änderte die Klägerin in der Verhandlung vom 19. Januar 2005 die Feststellungsklage in eine Herausgabeklage und ersetzte den MDK Bayern durch den MDK Baden-Württemberg. Das SG hat die Beklagte zur Herausgabe der Unterlagen an den MDK verurteilt, das Landessozialgericht deren Berufung mit Urteil vom 18. November 2005 zurückgewiesen. Die von der Beklagten daraufhin vor dem BSG eingelegte Revision war erfolglos.
Das BSG führt diesbezüglich aus, dass die Stufenklage auch in der Sozialgerichtsbarkeit zulässig sei. Die Herausgabe medizinischer Unterlagen an den MDK zwecks Prüfung sei unabdingbar, um festzustellen, ob und in welcher Höhe ein Erstattungsanspruch gegeben sei. Die Klageumstellung auf eine Herausgabeklage stelle ebenso eine nach § 99 Abs. 4 SGG nicht anfechtbare Entscheidung des SG dar wie die Ersetzung des MDK Bayern durch den zuständigen MDK Baden-Württemberg.
Zwar sei allein der MDK ermächtigt, nach § 276 Abs. 2 S. 1 2. Halbsatz SGB V die zur Prüfung erforderlichen Sozialdaten bei den Krankenhäusern anzufordern und werde diesbezüglich in einem eigenen Pflichtenkreis tätig. Dies bedeute jedoch nicht, dass der Anspruch auf Herausgabe von Unterlagen nur vom MDK geltend gemacht werden könne. Dieser Anspruch sei ein Hilfsanspruch, der dem auf Erstattung gerichteten Zahlungsanspruch diene und dessen Inhaber, also den Krankenkassen, zustehe. Diese seien bei der Prüfung von Krankenhausrechnungen auch „Herrin“ des Begutachtungsauftrages an den MDK, da sie die konkrete Fragestellung der Fallprüfung definieren und den Begutachtungsauftrag jederzeit ändern oder beenden können. Sie entscheiden auch darüber, ob und mit welchen Mitteln vorgegangen werden solle, wenn ein Leistungserbringer die Herausgabe von Unterlagen an den MDK verweigert. Dem MDK wäre es nicht zumutbar, die Herausgabe selbst und auf eigene Kosten einzuklagen, da ihm das eigene rechtliche oder wirtschaftliche Interesse bezüglich der streitigen Vergütungsfragen fehle. Daher könne nur die Krankenkasse den Herausgabeanspruch von Unterlagen an den MDK aus eigenem Recht und in eigenem Namen gerichtlich geltend machen, zumal § 276 SGB V nicht normiere, wem der Anspruch materiell-rechtlich zustehe oder wie er prozessual geltend zu machen sei.
Auch greife der Einwand der verspäteten Einleitung eines Prüfverfahrens nicht durch. Diesbezügliche gesetzliche oder vertragliche Pflichten bestanden im Jahr der Prüfung (2002) nicht. Die Grundsätze des BSG-Urteils vom 13. Dezember 2001 (Az.: B 3 KR 11/01 R, „Berliner Fälle“) seien auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden, da es hier um Fragen der Abrechnung und nicht um Fragen der Notwendigkeit und Dauer der stationären Behandlung gehe. Ob eine durchgeführte Therapie den Voraussetzungen der Gruppe 11 des Fallpauschalenkataloges entspricht, könne unabhängig vom konkreten Erinnerungsvermögen des behandelnden Arztes auch nach einem längeren Zeitraum beurteilt werden. Eine Frist zur Einleitung eines Prüfverfahrens sei nicht zu beachten gewesen, da eine entsprechende Frist erst im Landesvertrag nach § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V ab dem 1. Januar 2006 ohne rückwirkende Geltung in Kraft getreten sei.
Offen bleiben könne, ob sich die Prüfung der sachlichen und abrechnungstechnischen Richtigkeit einer Krankenhausrechnung auf Einzelfälle beschränke, wie es der entsprechende Landesvertrag nach § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB V vorsehe. Der Wortlaut des § 275 Abs. 1 SGB V enthalte keine Einschränkung der Prüfungskompetenz auf Einzelfälle, vielmehr spreche er von Auffälligkeiten zur Prüfung der ordnungsgemäßen Abrechnung. Die Krankenkasse sei daher berechtigt, die acht Behandlungsfälle durch den MDK überprüfen zu lassen, da es sich nicht um eine routinemäßige Stichprobenprüfung handele, sondern der konkrete Verdacht fehlerhafter Abrechnung bestehe und daher Auffälligkeiten im Sinne von § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V vorliegen.
Zwar sei die vierjährige Verjährungsfrist des Sozialrechts auf alle gegenseitigen Rechte und Pflichten im Rahmen der Rechtsbeziehungen der Leistungserbringer und der Krankenkassen zu übertragen und gelte sowohl für Haupt- als auch für Hilfsansprüche. Richtigerweise endete die Verjährungsfrist in sieben Fällen am 31. Dezember 2004, in einem Fall am 31. Dezember 2005, die am 27. Dezember 2002 erfolgte Klageerhebung hemme jedoch die Verjährung. Dass die Klage beim örtlich unzuständigen Sozialgericht eingereicht und der MDK Bayern irrtümlich benannt wurde, berühre die prozessuale Wirksamkeit der Klageerhebung nicht. Der Herausgabeanspruch sei auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass der auf der zweiten Stufe erhobene Zahlungsanspruch unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt begründet sein könne. Ebenso sei unbeachtlich, dass die Beklagte einen erheblichen Mehrerlösausgleich an die Klägerin habe zahlen müssen, da jedenfalls nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich trotz des Mehrerlösausgleichs noch ein Erstattungsanspruch der Klägerin errechne.
Für den Streitwert, so das BSG, sei bei Stufenklagen grundsätzlich nach § 44 GKG für die Wertberechnung nur der höhere der verbundenen Ansprüche maßgebend. Werde jedoch in zweiter und dritter Instanz lediglich ein der Informationsgewinnung dienender Auskunfts- oder Herausgabeanspruch geltend gemacht, betrage der Streitwert für die erste Stufe einer solchen Stufenklage grundsätzlich 10 % des voraussichtlichen Leistungsanspruchs.
Anmerkungen:
Nunmehr liegt eine weitere Entscheidung des BSG zum Beziehungsgeflecht Krankenhaus, Krankenkasse und MDK vor. Dabei hat das BSG neben systematisch nachvollziehbaren Begründungen auch Aussagen getroffen, die für die Krankenhäuser zu einer erheblichen Belastung werden können.
Erfreulich ist, dass die Zulässigkeit einer Stufenklage im sozialgerichtlichen Verfahren jetzt höchstrichterlich festgestellt wurde. Diese Aussage kommt für die Krankenhäuser zum richtigen Zeitpunkt, da die Stufenklage das richtige prozessuale Mittel darstellen wird, wenn gegen die Streichung der Rückzahlungsverpflichtung der nicht verwendeten Mittel der integrierten Versorgung nach § 140 d Abs. 1 S. 8 SGB V geklagt werden soll.
Die darauf aufbauende Feststellung des BSG ist schon zweischneidigerer Natur. Der im Rahmen einer Stufenklage auf der ersten Stufe zu erhebende Auskunftsanspruch ist materiell-rechtlich wohl tatsächlich ein Hilfsanspruch eines zu sichernden Zahlungsanspruches im Sinne der §§ 259 ff. BGB und unterliegt denselben Verjährungsregeln. Konsequenz dieser Feststellung ist, dass dann der Inhaber des Zahlungsanspruches – zumindest auch – Inhaber des Hilfsanspruches ist, die Krankenkasse somit im Klagewege die Herausgabe der zur ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung nach § 275 Abs. 1 SGB V erforderlichen Unterlagen geltend machen kann. Dieses Ergebnis irritiert zunächst, da der Wortlaut des § 276 Abs. 2 SGB V bestimmt, dass der MDK in Fällen des § 275 Abs. 1 SGB V Sozialdaten erheben und deren Übermittlung unmittelbar an sich verlangen darf. Vor dem Hintergrund des materiell-rechtlichen Charakters des Auskunftsanspruchs kann die Berechtigung zur Geltendmachung des Anspruches durch die Krankenkasse aber kaum bestritten werden. Was diese Feststellung im Ergebnis erträglicher macht, ist die Feststellung des BSG, dass die Unterlagen ausschließlich an den MDK herauszugeben sind und das Krankenhaus entscheiden kann, ob es die Unterlagen direkt an den MDK oder in einem verschlossenen Umschlag an die Krankenkassen zur Weiterleitung an den MDK übersendet.
Problematisch wird diese Entscheidung jedoch, wenn das BSG – wie bereits in seiner Entscheidung vom 28. September 2006, siehe DKG-Rundschreiben Nr. 376/06 vom 11. Dezember 2006 – eine Frage bewusst offen lässt, jedoch deutlich macht, welche Entscheidung es treffen würde, wenn es diese Frage zu klären hätte. In der Entscheidung vom 28. September 2006 ist das BSG bezüglich der Bindung des MDK an Regelungen in Landesverträgen nach § 112 Abs. 2 SGB V so verfahren, nunmehr zweifelt es den Charakter der Prüfungen nach § 275 Abs. 1 SGB V als Einzelfallprüfungen an, da der Begriff „Einzelfall“ im Wortlaut des § 275 Abs. 1 SGB V nicht auftauche, sondern lediglich von „Auffälligkeiten“ gesprochen werde. Damit steht das BSG in Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen. Dieser bezeichnet in der Gesetzesbegründung zum GKV-WSG unter Nr. 185 a die Prüfung nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ausdrücklich als „Einzelfallprüfung“. Die am Wortlaut klebende und den gesetzgeberischen Willen ignorierende Auslegung des BSG ist in Zeiten, in denen der Gesetzgeber erste Schritte zur Eindämmung der Flut von schematisiert eingeleiteten Prüfungen nach § 275 Abs. 1 SGB V unternimmt, kontraproduktiv, denn eine Prüfung von „Auffälligkeiten“ ist nicht auf einen Behandlungsfall beschränkt, eine solche Prüfung kann sich – wie im entschiedenen Fall – auf acht oder auch auf mehr Fälle beziehen. Es ist zu befürchten, dass die Krankenhäuser auch zukünftig weiterhin eine Flut von Prüfungen nach § 275 Abs. 1 SGB V erleiden müssen, die sich nicht nur auf Einzelfälle beschränken, sondern Gruppen von Behandlungsfällen umfassen werden. Dadurch verwischen die Grenzen zwischen der Prüfung nach § 275 Abs. 1 SGB V und der reglementierten Stichprobenprüfung nach § 17 c KHG und torpedieren das Ziel des Gesetzgebers, die Bedeutung der Stichprobenprüfung durch ein erleichtertes Einleitungsverfahren zu erhöhen.
Gerade die Aussage des BSG zum Charakter der Prüfung nach § 275 Abs. 1 SGB V verleiht dem Urteil erhebliche Brisanz, da zu befürchten ist, dass sich die Zahl der Einzelfallprüfungen unter dem Deckmantel der Prüfung von „Auffälligkeiten“ ansteigen wird.
Quelle: Pressemitteilung vom 22.6.2007
http://www.dkgev.de/dkgev.php/cat/116/a ... an+den+MDK