Moralische Prävalenz des Einzelnen!
„Wenn feststehe, dass Schmerzen und Qualen den Betroffenen peinigen, eine Besserung und Linderung nicht möglich und nur noch der Zeitpunkt abzuwarten ist, in dem die Last so unerträglich geworden ist, dass der vollständige körperliche Zusammenbruch folgt, kann es im Einzelfall ethisch vertretbar und legitimierbar sein, wenn die Ärzte bei einer solchen Notlage die Selbsttötung auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten ermöglichen oder unterstützen. Normativ könne für die Ärzte nicht etwas anderes gelten als für Personen, deren Hilfe beim Suizid straflos ist. Zur Vermeidung von Missverständnissen betonen die Mitglieder der Kommission, dass die Ärzte zur Beihilfe nicht verpflichtet seien und auch Einzelne keinen Anspruch darauf hätten, dass ihnen bei der Selbsttötung geholfen werde. Diejenigen, die Ärzte wegen Hilfe beim Suizid auch dann standesrechtlich sanktionieren wollten, wenn sie in einem Fall, in dem weder die passive noch die indirekte Sterbehilfe weiterhelfen konnten, gehandelt haben, müssten sich darüber im Klaren sein und es verantworten, dass sie verzweifelte Menschen allein ließen und diese das von ihnen selbst gewünschte Lebensende gar nicht oder nur unter qualvollen Bedingungen herbeiführen könnten. Solange im Bewusstsein der Menschen verankert bleibe, dass Ärzte niemals, in keinerlei Notlage beim Suizid helfen dürfen, ohne deswegen mit erheblichen Sanktionen rechnen zu müssen, hätten Länder wie die Niederlande, Belgien und die Schweiz Zulauf und würde der weitergehende Ruf nach Zulassung der aktiven Sterbehilfe nicht verstummen. Man schütze mit der strengen Auffassung der Minderheit letztlich ausschließlich das ärztliche Selbstverständnis, jedoch zu Lasten von Patienten, die man sich selbst überlässt. Die Bewahrung des generellen Vertrauens in ärztliches Handeln könne, so gewichtig sie sei, keine Rechtfertigung dafür sein, dem Einzelnen objektiv nicht linderbares Leiden zuzumuten. Solches Leiden dürfe einem Einzelnen nur zugemutet werden, wenn Lebensinteressen eines anderen zu verteidigen seien. Demgegenüber habe im Konflikt zwischen dem selbstbestimmten, vom Leiden motivierten Wunsch des Einzelnen und gesellschaftlichen oder standesrechtlichen Interessen unter bestimmten Umständen der Einzelne moralische Prävalenz.“ (Zitiert aus: Bericht der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz (2004), S. 107).
Warum, so fragt sich, kann man/frau sich nicht gegenwärtig auf diesen richtigen Ansatz verständigen? Die derzeitigen Stellungnahmen der Gegner der ärztlichen Suizidbeihilfe lassen keinen Erkenntnisfortschritt nach Jahrzehnten der Debatten erkennen.
Auch Bosbach lanciert mit seinem Statement die Behauptung, zwischen der Palliativmedizin und der ärztlichen Suizidbeihilfe bestehe letztlich ein Widerspruch. Dem ist mitnichten so. Seine Feststellung, dass der Präsident der BÄK, Montgomery, "darauf hinweist, dass es Aufgabe der Ärzte ist, Leben zu erhalten und Leiden zu lindern, nicht aber den Todeswunsch von Patienten zu erfüllen", greift wesentlich zu kurz, zumal in der medizinethischen Diskussion von nicht wenigen die überzeugende Auffassung vertreten wird, dass sich durch die Liberalisierung der berufsrechtlichen Sterbehilferegeln das „Bild des Arztes“ und das entsprechende Vertrauen in die fachliche, aber auch persönliche Integrität, nicht ändern wird! Eher das Gegenteil könnte angenommen.
Die intraprofessionelle Debatte über die Inhalt, Funktion und Reichweite des „Arztethos“ kann m.E. nur dadurch entschärft werden, wenn der parlamentarische Gesetzgeber zugleich auch die ärztliche Suizidbeihilfe regelt, die im Übrigen nach derzeitiger Rechtslage ebenfalls straffrei ist.
Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass
„der Gesetzgeber sich seiner Rechtsetzungsbefugnis nicht völlig entäußern und seinen Einfluss auf den Inhalt der von den körperschaftlichen Organen zu erlassenden Normen nicht gänzlich preisgeben darf“ (BVerfGE 33, 125 – Facharzt, zit. nach DFR (Abs. 118); online unter DFR >>>
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv033125.html <<<).
Ferner hat der Gesetzgeber zu berücksichtigen, dass trotz der eingeräumten Satzungsautonomie
„die Rechtsetzung durch Berufsverbände spezifische Gefahren für die Betroffenen und für die Allgemeinheit mit sich bringen kann. Zum Nachteil der Berufsanfänger und Außenseiter kann sie ein Übergewicht von Verbandsorganen oder ein verengtes Standesdenken begünstigen, das notwendigen Veränderungen und Auflockerungen festgefügter Berufsbilder hinderlich ist.
Solchen Gefahren, die der Freiheit des Einzelnen durch die Macht gesellschaftlicher Gruppen drohen, vorzubeugen und die Interessen von Minderheiten und zugleich der Allgemeinheit zu wahren, gehört mit zu den Funktionen des Gesetzesvorbehalts“ (BVerfG, ebenda).
Genau an diesem Punkt sollte die Debatte „fortgeführt“ werden und nicht darauf abheben, sich zum wiederholten Male der „moralischen und ethischen“ Dimension der Sterbehilfe und vor allem der eigenen, höchst individuellen Gewissensentscheidung zu vergewissern. Die Plädoyers sind vornehmlich in „eigener Sache“ gehalten und es ist höchste Zeit, die spezifische Gefahren, die sich aus der Haltung der Bundesärztekammer, und ihr folgend manche Landesärztekammer, ergeben, im Interesse nicht „nur“ der Ärzteschaft selber, sondern auch mit Blick auf die Interessen der Allgemeinheit vitaler zu diskutieren.
Gerade bei den Ärztefunktionären zeichnet sich seit Jahren in der Debatte um die Liberalisierung der ärztlichen Suizidbeihilfe ein verengtes Standesdenken ab, welches mit dem „Grundgesetz der ärztlichen Sittlichkeit“ nicht vereinbar ist, mithin also so „sittlich“ nicht ist und überdies aus den Augen verliert, dass in erster Linie auch das Wohl der Allgemeinheit zu wahren ist. Ein strikte Verbotsnorm der ärztlichen Suizidassistenz entspricht weder dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch den berechtigten Grundrechtsbelangen der Patienten, die zunächst keine Adressaten des ärztlichen Berufsrechts sind, gleichwohl aber deren Belange über die Allgemeinbezogenheit der ärztlichen Aufgaben empfindlich berührt sind.
Auch die „Arztethik“ wird sich an der „Rechtsethik“ messen lassen müssen und für mich ist es keine Frage, dass die Rechtsethik bei etwaigen Differenzen unter Wahrung der jeweiligen individuellen Gewissensentscheidung die entsprechende Prävalenz zukommt, ohne hierbei die ethischen Proklamationen der ärztlichen Selbstverwaltungskörperschaften selbst in Zweifel ziehen zu wollen. Maßgeblich ist „nur“, dass die Kammern akzeptieren, dass primär die Ärzteschaft ihren Beruf nach ihrem (!) Gewissen ausüben und dass die dieses vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht ein zentrales „Ur-Grundrecht“ ist, welches es gegenüber den Gefahren einer Zwangsethisierung zu verteidigen gilt.
Es gilt also nicht nur die „moralische und ethische Prävalenz“ des Patienten, sondern auch eine solche der Ärzteschaft, die insbesondere von den eigenen (!) Selbstverwaltungskörperschaften aus guten und nachvollziehbaren Gründen zu respektieren ist.
Mit Verlaub: Weder der Präsident der BÄK noch die ethischen Überzeugungstäter „in seinem Gefolge“ verdienen sich im gegenwärtigen Sterbehilfediskurs besondere Meriten, gehen diese doch zu lax mit hochrangigen Grundrechten ihrer Kolleginnen und Kollegen als auch der Patienten um.
Hier ist dringend Einhalt geboten und wer die Rechtsethik nicht fühlen will, sollte letztlich das „Recht“ spüren. Die ärztlichen Selbstverwaltungskörperschaften – soweit diese das Verbot aus der ärztlichen Musterberufsordnung übernommen haben – müssen zwingend daran erinnert werden, dass der Satzungsautonomie von der Rechtsordnung durchaus Grenzen (!) gesetzt sind!