Medizinische Zwangsbehandlung und Grundrechtsschutz

Rechtsbeziehung Patient – Therapeut / Krankenhaus / Pflegeeinrichtung, Patientenselbstbestimmung, Heilkunde (z.B. Sterbehilfe usw.), Patienten-Datenschutz (Schweigepflicht), Krankendokumentation, Haftung (z.B. bei Pflichtwidrigkeiten), Betreuungs- und Unterbringungsrecht

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Medizinische Zwangsbehandlung und Grundrechtsschutz

Beitrag von Presse » 15.04.2011, 13:06

Bundesverfassungsgericht - Pressestelle - Pressemitteilung Nr. 28/2011 vom 15. April 2011
2 BvR 882/09

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines im Maßregelvollzug
Untergebrachten gegen medizinische Zwangsbehandlung zur Erreichung des
Vollzugsziels - Rheinland-pfälzische gesetzliche Regelung
verfassungswidrig

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Der Beschwerdeführer befindet sich seit 1999 aufgrund einer Verurteilung
wegen im Zustand der Schuldunfähigkeit begangener Gewalttaten im
Maßregelvollzug. Die Maßregelvollzugsklinik kündigte ihm schriftlich die
Behandlung „mit einem geeigneten Neuroleptikum, das eventuell auch gegen
Ihren Willen intramuskulär gespritzt wird“, an. Den hiergegen
gerichteten Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung
wies das Landgericht mit der Maßgabe zurück, dass eine zwangsweise
medikamentöse Therapie mittels atypischer Neuroleptika für einen
Zeitraum von sechs Monaten zulässig sei. Die hiergegen gerichtete
Rechtsbeschwerde zum Oberlandesgericht hatte keinen Erfolg.

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 des rheinland-pfälzischen
Maßregelvollzugsgesetzes (MVollzG Rh.-Pf.) sind operative Eingriffe,
Behandlungen und Untersuchungen des Untergebrachten nur mit seiner
Einwilligung zulässig, wenn sie mit einem wesentlichen gesundheitlichen
Risiko oder einer Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten
verbunden sind; sonstige operative Eingriffe, Behandlungen und
Untersuchungen sind ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten
zulässig bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit
des untergebrachten Patienten oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer
Personen. Ferner bestimmt der im konkreten Fall als Rechtsgrundlage
herangezogene § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. in seinem ersten
Halbsatz, dass im Übrigen Behandlungen und Untersuchungen zur Erreichung
des Vollzugsziels ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten
durchgeführt werden können.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 6
Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. mit dem Grundrecht auf körperliche
Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem
Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar
und nichtig ist. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen
Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts wurden
aufgehoben, da sie mangels ausreichender gesetzlicher Grundlage für die
angekündigte Zwangsbehandlung den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht
auf körperliche Unversehrtheit verletzen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Die medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen dessen
natürlichen Willen (Zwangsbehandlung) greift in besonders
schwerwiegender Weise in dessen Grundrecht auf körperliche
Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein.

Dem Gesetzgeber ist es nicht prinzipiell verwehrt, solche Eingriffe
zuzulassen. Dies gilt auch für eine Behandlung, die der Erreichung des
Vollzugsziels dient, also darauf gerichtet ist, den Untergebrachten
entlassungsfähig zu machen. Zur Rechtfertigung eines solchen Eingriffs
kann das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des
Untergebrachten selbst (Art. 2 Abs. 2 GG) geeignet sein, sofern der
Untergebrachte zur Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und die
Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen oder zum Handeln gemäß solcher
Einsicht krankheitsbedingt nicht fähig ist. Soweit unter dieser
Voraussetzung ausnahmsweise eine Befugnis zur Zwangsbehandlung
anzuerkennen ist, eröffnet dies keine „Vernunfthoheit“ staatlicher
Organe über den Grundrechtsträger dergestalt, dass dessen Wille allein
deshalb beiseite gesetzt werden dürfte, weil er von durchschnittlichen
Präferenzen abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint.
Maßnahmen der Zwangsbehandlung dürfen nur eingesetzt werden, wenn sie im
Hinblick auf das Behandlungsziel, das ihren Einsatz rechtfertigt, Erfolg
versprechen und für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden
sind, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Sie dürfen
nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Eine weniger eingreifende
Behandlung muss aussichtslos erscheinen. Der Zwangsbehandlung muss,
soweit der Betroffene gesprächsfähig ist, unabhängig von seiner
Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit der ernsthafte, mit dem nötigen
Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch
vorausgegangen sein, die auf Vertrauen gegründete Zustimmung des
Untergebrachten zu erreichen.

Der in einer geschlossenen Einrichtung Untergebrachte ist zudem zur
Wahrung seiner Grundrechte in besonders hohem Maße auf
verfahrensrechtliche Sicherungen angewiesen. Jedenfalls bei planmäßigen
Behandlungen ist eine hinreichend konkrete Ankündigung erforderlich, die
dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, rechtzeitig Rechtsschutz zu
suchen. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit unabdingbar ist die
Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangsbehandlung durch
einen Arzt. Zur Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes und der
Verhältnismäßigkeit ist es geboten, gegen den Willen des Untergebrachten
ergriffene Behandlungsmaßnahmen eingehend zu dokumentieren. Im Hinblick
auf die besonderen situationsbedingten Grundrechtsgefährdungen, denen
der Untergebrachte ausgesetzt ist, muss darüber hinaus sichergestellt
werden, dass der Durchführung einer Zwangsbehandlung zur Erreichung des
Vollzugsziels eine Prüfung in gesicherter Unabhängigkeit von der
Unterbringungseinrichtung vorausgeht. Die Ausgestaltung der Art und
Weise, in der dies geschieht, ist Sache des Gesetzgebers.

Die wesentlichen materiellen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen des
Eingriffs bedürfen gesetzlicher Regelung.

Die Eingriffsermächtigung des § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. genügt,
auch in Verbindung mit weiteren Bestimmungen des rheinland-pfälzischen
Maßregelvollzugsgesetzes, diesen Anforderungen nicht. Insbesondere fehlt
es an der gesetzlichen Regelung des unabdingbaren Erfordernisses
krankheitsbedingt fehlender Einsichtsfähigkeit. Auch eine Reihe weiterer
für den Grundrechtsschutz wesentlicher Eingriffsvoraussetzungen ist
nicht oder nur unzureichend geregelt.

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Zwangsbehandlung in der Forensik

Beitrag von Presse » 15.04.2011, 13:10

Heute morgen hat das Bundesverfassungsgericht seine lang erwartete Entscheidung bekannt gegeben, ob Zwangsbehandlung in der Forensik zulässig ist oder nicht - Zitat:

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. [Zwangsbehandlung] mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar und nichtig ist.

Das ist ein einschneidendes und wegweisendes Urteil, vollständig nachzulesen hier: http://www.bundesverfassungsgericht.de/ ... 88209.html
Unten die Presseerklärung des Bundesverfassungsgerichts dazu: http://www.bundesverfassungsgericht.de/ ... 1-028.html

Für dieses Verfahren hat RA Scharmer ein Rechtsgutachten angefertigt, in dem umfangreich und detailliert, insbesondere auch mit Hilfe der Behindertenrechtskonventionen, argumentiert wird, warum diese Urteil nur so gefällt werden kann.
Das Gutachten ist hier veröffentlicht: http://www.die-bpe.de/forensik


Da mit diesem Urteil die Zwangsbehandlung in der Forensik erfolgreich zu Fall gebracht werden konnte, ist nun zu erwarten, dass alle Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie mit dem Grundgesetz, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, unvereinbar sind und dann jede psychiatrische Zwangseinweisung nur noch Knast ist, für den KEINE Krankenversicherung mehr zahlen wird.

Quelle: Mitteilung vom 15.04.2011
Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener
im Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
http://www.die-bpe.de

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Karlsruhe beschränkt Zwangsbehandlung von Straftätern

Beitrag von Presse » 16.04.2011, 06:58

Karlsruhe beschränkt Zwangsbehandlung von Straftätern
Psychisch kranke Straftäter dürfen in der Regel nicht gegen ihren Willen behandelt werden. ... mehr »
http://www.aerztezeitung.de/nl/?sid=650 ... cht&n=1035

Verfassungsgericht begrenzt Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug
Karlsruhe – Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat die medizinische Zwangsbehandlung von Straftätern beschränkt.
Nach einem heute veröffentlichten Beschluss haben sie das Recht, die Einnahme von Psychopharmaka bewusst abzulehnen.
Das Ziel, Straftäter wieder in die Freiheit .... [mehr]
http://www.aerzteblatt.de/v4/news/lette ... m&id=40095

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Richter stärken Rechte psychisch kranker Straftäter

Beitrag von Presse » 17.04.2011, 14:00

Verfassungsgericht
Richter stärken Rechte psychisch kranker Straftäter
Psychisch kranke Straftäter dürfen nicht gegen ihren Willen mit Medikamenten behandelt werden. Das Bundesverfassungsgericht gab einem Kläger mit paranoider Psychose Recht.
.... (mehr)
http://www.zeit.de/gesellschaft/2011-04 ... traftaeter

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Zwangsbehandlungen

Beitrag von Presse » 17.01.2012, 12:54

Presse-Information vom 17.01.2012

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
Zwangsbehandlungen – Bundesverfassungsgericht zwingt Ärzte zu unterlassener Hilfeleistung

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) warnt vor den Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 23.03.2011 zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug. Die Rigorosität des Gesetzes zwingt Ärzte zu unterlassener Hilfeleistung und verhindert unterstützende Hilfsangebote für Menschen mit Eigen- oder Fremdgefährdung.
Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat im Beschluss vom 23.03.2011 (2 BvR 882/09) die Zwangsbehandlung mit Antipsychotika bei behandlungsunwilligen, krankheitsuneinsichtigen Patienten im psychiatrischen Maßregelvollzug als schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bewertet und im Einzelfall an strengste Anforderungen geknüpft.

Aus psychiatrischer Sicht ist die Stärkung des Patientenwillens und der Patientenautonomie zu begrüßen. Die selbstbestimmte Einsicht in die Notwendigkeit einer Behandlung ist eine wesentliche Grundlage des Erfolgs einer jeden sachgerechten, den Patienten einbeziehenden und auf seine Mitwirkung bauenden Behandlung. Allerdings birgt die Rigorosität des Verbots der Behandlung ohne und auch gegen den Willen des Betroffenen aber in dessen bestverstandenem Interesse gravierende Konsequenzen, zwingt die Helfenden ihren Patienten erfolgversprechende Hilfe vorzuenthalten und überantwortet psychisch Kranke einem eigengesetzlich verlaufenden Schicksal. Damit werden sinnvolle Hilfsangebote nicht mehr nutzbar, das Unterlassen von Hilfeleistungen zur ärztlichen Aufgabe, die „freie“ Willensentscheidung psychisch Kranker zynisch zur Legitimation der langfristigen Verwahrung.

Die weitaus überwiegende Mehrzahl psychiatrischer Patienten wirkt an ihrer Behandlung konstruktiv mit. Zwangsbehandlungen sind seltene Ausnahmen bei der psychiatrischen Behandlung. Behandlungen ohne den Willen des Patienten sind aber dann bedeutsam und hilfreich, wenn Menschen auf Grund ihrer psychischen Störung für sich oder andere gefährlich werden.

Im Interesse von Patienten wie Ärzten und Therapeuten fordert die DGPPN daher
• eine eindeutige gesetzliche Grundlage für eine Behandlung, die dann erforderlich wird, wenn ein Patient infolge einer psychischen Störung eigen- oder fremdgefährdend ist und aufgrund mangelnder Einsicht einer wirksamen Behandlung und deren Fortführung zur Aufrechterhaltung des Behandlungserfolgs nicht zustimmen kann,
• eine eindeutige gesetzliche Grundlage für eine erforderliche Zwangsbehandlung auch bei einwilligungsfähigen Patienten, die infolge einer psychischen Störung gefährlich geworden sind und der Verantwortung von Ärzten übergeben werden,
• dass auch behandlungsbedürftige, jedoch auf Grund fehlender gesetzlicher Grundlage nicht behandelbare Menschen mit psychischen Störungen, die nur gesichert werden müssen, aus der ärztlichen Verantwortung zu entlassen und die JVAs zu überstellen sind, bis eine Behandlungsoption entsteht.

Die Stellungnahme lesen Sie unter:
http://www.dgppn.de/publikationen/stell ... l-d-1.html

Kontakt:
Prof. Dr. med. Peter Falkai
Präsident DGPPN
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Göttingen
von-Siebold-Str. 5
37075 Göttingen
Tel.: 0551-396601
Fax: 0551-3922798
E-Mail: pfalkai[at]gwdg.de
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DGPPN-Präsident: Prof. Dr. med. Peter Falkai
(auch inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 55 Abs. 2 RStV)

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