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Patientenwille ist zu achten - auch vom Heimträger !

Verfasst: 07.01.2011, 08:48
von WernerSchell
---- Siehe weiter unten die Pressemitteilung vom 14.01.2011! ----


In einer Mailingliste gab es heute die nachfolgende Zuschrift. Sie wird (anonymisiert) mit Antwort vorgestellt:

Frau .... schrieb:
... am heutigen Tage habe ich von einer Einrichtung für Wachkomapatienten und Beatmungspatienten folgenden Nachtrag erhalten mit der Bitte diesen zu
unterschreiben:
"Zwischen der Pflegeeinrichtung X und Frau Y wird der Heimvertrag in § 11 wie folgt ergänzt:
Das Heim und dessen Mitarbeiter haben die sittliche Überzeugung, dass die Verpflichtung besteht, Leben zu schützen und zu pflegen. Der Bewohner oder
sein rechtlicher Vertreter wird vom Heim und seinen MItarbeitern daher ein Vorenthalten von Nahrung und Flüssigkeit nicht verlangen, auch wenn eine
entsprechende Patientenverfügung oder ein entsprechender mutmaßlicher Wille vorliegt. Sollte der Bewohner oder sein rechtlicher Vetreter daher
beabsichtigen das Leben des Bewohners durch Nahrungs- und Flüssigkeitsentzug zu beenden verpflichtet er sich den Heimvertrag zu kündigen und die
beabsichtigte Maßnahmen in einer damit vertrauten Institution (Hospiz oä) oder zu Hause durchzuführen."
Ich halte diesen Nachtrag für fragwürdig, oder ist das so ok?

Antwort:

Sehr geehrte Frau ....,

der rechtliche Betreuer (bzw. Bevollmächtigte) hat dem Patientenwillen Ausdruck und Geltung zu verschaffen (§ 1901a BGB). Dies auch dann, wenn es um einen Behandlungsabbruch bzw das Vorenthalten von Nahrung und Flüssigkeit geht (vgl. Urteil des BGH vom 25.06.2010 - 2 StR 454/09 – siehe dazu auch die angefügten Hinweise). Der Heimträger bzw. die Führungsverantwortlichen sind in der Pflicht, die Patientenautonomie zu achten. Siehe auch die "Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen".
Ich sehe unter diesen Umständen keine Veranlassung, der gewünschten Vertragsänderung zuzustimmen. Sollte der Heimträger weiterhin auf eine Vertragsänderung drängen, wäre eine Unterrichtung der Pflegekassenverbände, die über die Zulassung von Pflegeeinrichtungen mit zu befinden haben, zu denken. Im Übrigen wäre darüber nachzudenken, ob hier von einer Nötigung usw. auszugehen ist.
Dem beschriebenen Ansinnen des Heimträgers sollte aus grundsätzlichen Erwägungen entgegen getreten werden.

Mit freundlichen Grüßen
Werner Schell
http://www.wernerschell.de
http://www.pro-pflege-selbsthilfenetzwerk.de

>> Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar <<
Leitsatz: Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht (§ 1901a BGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.
Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 25.06.2010 – 2 StR 454/09 – (Freispruch RA Wolfgang Putz im Zusammenhang mit dem Abbruch der künstlichen Ernährung mittels Magensonde) hier - (PDF)
http://www.wernerschell.de/Rechtsalmana ... 062010.pdf
Diskussionen im Forum Werner Schell hier
viewtopic.php?p=52776#52776

Patientenautonomie am Lebensende - nicht infrage stellen

Verfasst: 07.01.2011, 10:00
von WernerSchell
Die nachfolgenden Diskussionsbeiträge wurden von Forum
viewtopic.php?t=14370&start=45
nach hier übernommen:

Differenzierte Betrachtung wäre erforderlich!
Hier ist ein Problem angesprochen, dass m.E. jedenfalls unter rechtspolitischen Aspekten betrachtet einer weiteren Diskussion bedarf.
De lege ferenda wäre es wünschenswert, wenn im Zweifel ein ausgewogener Grundrechtsschutz angestrebt wird, in dem dann auch den Grundrechten der Pflegenden oder im Zweifel der "verfassten Amtskirchen" hinreichend getragen werden kann.
Ich halte diesbezüglich die Rechtsprechung des BGH mit Blick auf die Grundrechte der beruflich Pflegenden für diskussionswürdig, zumal das Zivilrecht durchaus Alternativen anbietet, wonach auch die beruflich Pflegenden nicht unbedingt in einen ethischen und moralisch bedeutsamen Gewissenskonflikt gestürzt werden. Wer "Freiheit" für sich reklamiert, sollte diese auch anderen zugestehen und so gesehen könnte in der Aufkündigung des Heimvertrages durchaus eine gangbarer Weg gesehen werden, wenn es denn Alternativen zur anderweitigen Unterbringung geben sollte.
Lutz Barth
+++

Lutz Barth hat folgendes geschrieben::
.... Hier ist ein Problem angesprochen, dass m.E. jedenfalls unter rechtspolitischen Aspekten betrachtet einer weiteren Diskussion bedarf. ....

Hallo,
natürlich kann über alles reden. Aber hier geht es doch klar um die Durchsetzung der Patientenautonomie. Sie darf m.E. nicht durch Heimträgeraktivitäten umgangen bzw. ausghebelt werden. Dem muss man, wie Herr Schell zurecht ausgeführt hat, deutlich entgegen treten.
Offensichtlich stecken hinter den Heimträgerabsichten Erwägungen, wie sie von Herrn Brysch, Hospiz-Stiftung, angestellt werden. Dieser Herr ist nach meinen Kenntnissen seit einiger Zeit dahingehend unterwegs, dass er § 1901a ff. BGB für korrekturbedürftig erachtet. Ihm geht die Patientenautonomie nach den Regeln des Betreuungsrechtes zu weit. Er will offensichtlich nach eigenen Vorstellungen die Patienten für sich selbst schützen ... Er hat ja auch im Zusammenhang mit dem BGH-Urteil vom 25.06.2010 von Wild-West-Methoden gesprochen.
Erst 2005 hat der BGH im Falle des Wachkomapatienten P. ... u.a. ausgeführt (Traunsteiner Fall):
....
Insbesondere fand das Selbstbestimmungsrecht der Pflegekräfte am entgegenstehenden Willen des Klägers bzw. des für ihn handelnden Betreuers - also an den " Rechten anderer " (Art. 2 Abs. 1 GG) - seine Grenze. Die Frage, ob das Verlangen des Klägers die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) des Pflegepersonals berührte, kann letztlich dahinstehen. ...; niemand darf zu unerlaubten Handlungen gezwungen werden.
Im Übrigen verleiht die Gewissensfreiheit dem Pflegepersonal aber kein Recht, sich durch aktives Handeln über das Selbstbestimmungsrecht des durch seinen Betreuer vertretenen Klägers hinwegzusetzen und seinerseits in dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit einzugreifen.
....
Quelle: http://www.wernerschell.de/web/05/traunsteiner_fall.php
Nach all dem neige ich dazu, die jetzt - vielleicht musterhaft - in Gang gebrachten Heimträgerabsichten zurückzuweisen. Hier geht es klar um die Patientenautonomie am Lebensende. Und die darf nicht mit allerlei Tricksereien unterlaufen werden.
Gruß
Herbert Kunst
+++

Sehr geehrter Herr Kunst.

Es geht nicht darum, im Zweifel "über alles reden zu wollen", sondern um die Frage, ob perspektivisch de lege ferenda die miteineinander offensichtlich konfligierenden Gewissensentscheidungen partiell nach dem Prinzp der praktischen Konkordanz aufgelöst, besser "befriedet" werden können.

De lege lata - mithin also die geltende Rechtslage - ist indes hinreichend klar und selbstverständlich gilt es. die privatautonomen Entscheidungen des Patienten resp. der Bewohner zu respektieren.

Gleichwohl darf das "Recht" nicht stehen bleiben, zumal dann nicht, wenn sich ein Konflikt eher unspektakulär lösen lässt. Rechtstheoretisch ist dies möglich und ich denke, wir sollten auch nach einer optimaleren Lösung streben, in der auch der Wesensgehalt der individuellen Gewissensentscheidung der beruflich Pflegenden resp. der Ärzteschaft gewahrt bleibt.

Ihr Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH ist jedenfalls insoweit irritierend, weil vor (!) dem entscheidenden Paradigmenwechsel in der sog. "Putz-Entscheidung" es lediglich eine Frage des Geschmacks war, "Wild-West-Methoden" zu rügen. In der Sache selbst war der "Freispruch" nicht so sicher, wie von vielen nunmehr im Nachgang behauptet; er hing durchaus an einem "seidenen Faden" und konnte nur deshalb erfolgen, weil die "Einheit der Rechtsordnung" zu wahren war.

Sei es drum. Die Debatte über die Qualtität des Freispruchs ist unergiebig, während demgegenüber eine Debatte über die Reichweite der Gewissensfreiheit auch der beruflich Pflegenden (zumal von solchen auch in kirchlichen Einrichtungen) sinnvoll ist.

Gruß Lutz Barth
+++

In Würde leben und sterben dürfen

Verfasst: 07.01.2011, 11:19
von HorstHessen
In Würde leben und sterben dürfen

Seit ca. 20 Jahre bin ich DGHS-Mitglied; incl. Patientenverfügung, auch hinterlegt beim Amtsgericht.
Lt. GG ist die Würde des Menschen unantastbar.
Dazu gehört FÜR MICH ganz selbstverständlich auch ein Sterben OHNE QUALEN,; dazu gehört auch die Sterbefilfe, eben, um in Würde sterben zu dürfen.
Der Kirche spreche ich jegliches Recht ab, in meine Entscheiidungen iin dieser Frage mitzumischen.

Heime mit realitätsferner Praxis ?

Verfasst: 07.01.2011, 13:15
von G. Fröhlich- Rockmann
Ich bin geneigt, meinen Vorrednern zuzustimmen und denke auch, dem Grundsatz zustimmen zu können, dass das Grundrecht dort seine Grenzen findet, wo die Grenzen des Grundrechtes eines Anderen verletzt werden.

Ob das Grundrecht auf Selbstbestimmung des Patienten nun höher einzustufen ist als die Gewissensfreiheit der Pflegekräfte muss ich nicht beurteilen. Für mich wirft sich allerdings die Frage auf wie man Pflegekraft werden kann , wenn das natürliche Ende des Lebens mit dem Gewissen nicht verienbar ist ?

Grotesk wird die Forderung des Heimes, wenn ich mir die Frage stelle, wie das Heim denn entscheiden wird, wenn ein Patient innerhalb eines natürlichen Sterbeprozesses die Nahrungsaufnahme (zu der ich auch die Flüssigkeitszufuhr rechne) einstellt? Wird er dann auch zum Sterben des Hauses verwiesen? Oder umfasst die "Gewissensfreiheit" der Pflegekräfte automatisch Zwangsernährung und somit die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und Selbstsbestimmung der Person??

Erschreckend, wie realitätsfremd die Praxis in manchen Heimen zu funktionieren scheint, fast nach dem Motto: Sterben bitte im Hospiz oder zu Hause!

Patientenautonomie am Lebensende mit Vorrang

Verfasst: 08.01.2011, 08:35
von WernerSchell
Ich danke Herbert Kunst für den ergänzenden Hinweis zum Beschluss des BGH vom 08.06.2005 - XII ZR 177/03 - OLG München, LG Traunstein - in der Streitsache des Wachkomapatienten P. Dieses Verfahren - es ging zuletzt nur noch um eine Kostenentscheidung - wurde ebenfalls von RA Wolfgang Putz geführt und von hier durch Forumshinweise und Zeitschriftenbeiträge begleitet.
Der BGH - Zivilsenat - hat seinerzeit klar herausgestellt, dass bei der Wahrnehmung der Patientenautonomie am Lebensende die Selbstbestimmung Vorrang hat vor heimrechtlichen Erwägungen und der Freiheit des Gewissens von Pflegekräften. Bei einer Abwägung hat das Selbstbestimmungsrecht zu dominieren. - Und das ist auch gut so!

Werner Schell

Siehe auch:
Die Bedeutung der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs im Fall des Komapatienten Peter K. (Traunsteiner Fall)
Näheres hier:
http://www.wernerschell.de/web/05/traunsteiner_fall.php

Patienten - Selbstbestimmungsrecht hat Vorrang !

Verfasst: 08.01.2011, 10:36
von Cicero
Patienten - Selbstbestimmungsrecht hat auch nach meiner Auffassung Vorrang gegenüber dem Recht auf Gewissensfreiheit von Pflegepersonal und vertragsrechtlichen Erwägungen der Heimträgerseite.
Wenn jetzt Heime versuchen sollten, BewohnerInnen einer Zwangsernährung zu unterwerfen oder ihnen die Kündigung nahe zu legen, ist das nicht hinnehmbar. Das widerspricht klar meinem Rechtsempfinden. Heimträger sind mit ihren Leistungsangeboten - Rechten und Pflichten - nicht frei, sondern der Menschenwürde und den Regelungen im SGB XI unterworfen.

Cicero

Re: Patientenautonomie am Lebensende mit Vorrang

Verfasst: 08.01.2011, 10:58
von Lutz Barth
WernerSchell hat geschrieben:Ich danke Herbert Kunst für den ergänzenden Hinweis zum Beschluss des BGH vom 08.06.2005 - XII ZR 177/03 - OLG München, LG Traunstein - in der Streitsache des Wachkomapatienten P. Dieses Verfahren - es ging zuletzt nur noch um eine Kostenentscheidung - wurde ebenfalls von RA Wolfgang Putz geführt und von hier durch Forumshinweise und Zeitschriftenbeiträge begleitet.
Der BGH - Zivilsenat - hat seinerzeit klar herausgestellt, dass bei der Wahrnehmung der Patientenautonomie am Lebensende die Selbstbestimmung Vorrang hat vor heimrechtlichen Erwägungen und der Freiheit des Gewissens von Pflegekräften. Bei einer Abwägung hat das Selbstbestimmungsrecht zu dominieren. - Und das ist auch gut so!
Werner Schell
Nun - ungeachtet der Frage, ob dies auch gut sei, bietet das Verfassungsrecht aus meiner Sicht jedenfalls hinreichend Anlass (u.a. Art 19 II GG), nach einer differenzierten Lösung zu streben, die im Übrigen sowohl dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten als auch (!) der Gewissensfreiheit der Ärzte resp. beruflich Pflegenden hinreichend Rechnung trägt.
Vgl. dazu erstmals Barth, Der Wachkoma-Patient und ein „öffentlichkeitswirksamer“ Rechtsstreit - die „zulässige Sterbehilfe“ aus anwaltlicher Sicht?! >>> http://www.iqb-info.de/Barth%20vs.%20Pu ... atient.pdf <<<

Hieraus folgt: Sofern unterverfassungsrechtlich miteinander konfligierende Grundrechtspositionen sich zum Ausgleich bringen lassen können, sollte diese Möglichkeit auch ernsthaft in Betracht gezogen werden.
Hierfür könnte im Übrigen auch ein Blick in die Rechtsprechung des BVerfG zum "Kirchen(arbeits)recht" wegweisend sein, wonach bekanntermaßen den verfassten Amtskirchen Gestaltungsspielräume gewährt werden, nach denen es im Zweifel nicht so klar ist, ob stets das Selbstbestimmungsrecht in der Abwägung dominiert, zumal, wenn andere Lösungen sich als verhältnismäßiger erweisen.

Sei es drum. Die damit aufgworfenen Fragen sind einstweilen noch rechtstheoretischer Natur, zumal die Rspr. des BGH in dieser Frage eindeutig ist.

Patientenverfügung - auch im Heim uneingeschränkt gültig

Verfasst: 14.01.2011, 13:13
von WernerSchell
>>>> Wegen der Bedeutung des Themas hat es heute folgende Veröffentlichung von Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk gegeben
(auch unter http://www.pro-pflege-selbsthilfenetzwerk.de - Pressemitteilungen - nachlesbar):


Bild Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk
Unabhängige und gemeinnützige Initiative - Harffer Straße 59 - 41469 Neuss
Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk führt regelmäßig Pflegetreffs mit bundesweiter Ausrichtung durch.
Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk ist Kooperationspartner der „Aktion Saubere Hände.“


Neuss, den 14.01.2011

Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk informiert aus gegebenem Anlass:

Patientenverfügung muss auch in stationären Pflegeeinrichtungen uneingeschränkt gelten

In den vergangenen Jahren ist lebhaft über die Patientenautonomie am Lebensende gestritten worden. Dies führte dazu, dass sich der Bundesgerichtshof (BGH) mehrfach zu den maßgeblichen Rechtsfragen geäußert hat und schließlich der Gesetzgeber in § 1901a ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) für klarstellende Vorschriften zur Patientenverfügung und deren Umsetzung beigetragen hat.

§ 1901a BGB -Patientenverfügung:
(1) Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.
(2) Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.
(4) Niemand kann zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet werden. Die Errichtung oder Vorlage einer Patientenverfügung darf nicht zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht werden.
(5) Die Absätze 1 bis 3 gelten für Bevollmächtigte entsprechend.


Danach hat jeder einwilligungsfähige Volljährige die Möglichkeit, mittels einer schriftlich abgefassten Patientenverfügung zu bestimmen, dass im Falle einer exakt festgelegten Lebenssituation bestimmte (in der Regel lebensverlängernde) Maßnahmen, wie z.B. die Zuführung von Nahrung und Flüssigkeit mittels Magensonde (PEG) oder die künstliche Beatmung, zu unterbleiben haben. Insoweit gibt es auch keine Einschränkungen dergestalt, dass solche Unterlassungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn sich der Betroffene im Sterbeprozess befindet (sog. Reichweitenbegrenzung). Letztlich darf auch niemand zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet oder die Errichtung oder Vorlage einer Patientenverfügung zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht werden. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass niemand verpflichtet werden kann, von der Errichtung einer Patientenverfügung oder bestimmten Festlegungen hinsichtlich Behandlungsabbruch abzusehen. Der Gesetzgeber hat mit den neuen Regelungen eine eindeutige Rechtslage geschaffen mit der Folge, dass sich auch bei der Behandlung, Pflege und Betreuung von Heimbewohnern uneingeschränkte Pflichten dahingehend ergeben, eine wirksam errichtete Patientenverfügungen zu respektieren und ihre Durchsetzung zu gewährleisten.

Veränderungen der Rechtslage durch Vertrag sind nicht zulässig

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die durch den Gesetzgeber geschaffene Rechtslage als mit dem Lebensschutz nicht vereinbar hinzustellen. Vor allem sind seit dem Urteil des BHG vom 25.06.2010 - 2 StR 454/09 - immer wieder Rufe laut geworden, die neuen Vorschiften im BGB im Sinne einer vermeintlichen Stärkung des Lebensschutzes zu korrigieren und die Verfügungskompetenzen Volljähriger hinsichtlich der Unterlassung bzw. des Abbruches von Behandlungs- und Pflegemaßnahmen einzuschränken.

Solche Erwägungen haben nun einen Heimträger bewogen, dem rechtlichen Betreuer einer Bewohnerin eine Nebenabrede zum Heimvertrag abzuverlangen. Der diesbezügliche Brieftext (anonymisiert) im Wortlaut:

„Zwischen der Pflegeeinrichtung X und Frau Y wird der Heimvertrag in § 11 wie folgt ergänzt:

„Das Heim und dessen Mitarbeiter haben die sittliche Überzeugung, dass die Verpflichtung besteht, Leben zu schützen und zu pflegen. Der Bewohner oder sein rechtlicher Vertreter wird vom Heim und seinen Mitarbeitern daher ein Vorenthalten von Nahrung und Flüssigkeit nicht verlangen, auch wenn eine entsprechende Patientenverfügung oder ein entsprechender mutmaßlicher Wille vorliegt. Sollte der Bewohner oder sein rechtlicher Vertreter daher beabsichtigen das Leben des Bewohners durch Nahrungs- und Flüssigkeitsentzug zu beenden, verpflichtet er sich, den Heimvertrag zu kündigen und die beabsichtigte Maßnahmen in einer damit vertrauten Institution (Hospiz o.ä.) oder zu Hause durchzuführen.“


Auf die Frage, ob und inwieweit solche Nebenabreden zulässig sind, ergibt sich folgende Beurteilung:

Der rechtliche Betreuer (bzw. Bevollmächtigte) hat dem Patientenwillen Ausdruck und Geltung zu verschaffen (§ 1901a BGB). Dies auch dann, wenn es um einen Behandlungsabbruch bzw. das Vorenthalten von Nahrung und Flüssigkeit geht (vgl. Urteil des BGH vom 25.06.2010 - 2 StR 454/09 -). Der Heimträger bzw. die Führungsverantwortlichen sind in der Pflicht, die Patientenautonomie zu achten (siehe auch die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“). Es kann unter diesen Umständen keine Veranlassung gesehen werden, die gewünschte Vertragsänderung als zulässige Ergänzung des Heimvertrages anzusehen.

Sollte der Heimträger weiterhin auf eine Vertragsänderung drängen, wäre eine Unterrichtung der Pflegekassenverbände, die über die Zulassung von Pflegeeinrichtungen mit zu befinden haben, zu denken. Denn es müsste die Frage aufgeworfen werden, ob sich der Heimträger mit seinem Ansinnen nicht außerhalb des Rechtsrahmens des SGB XI stellt und seine Zulassung zur Versorgung von pflegebedürftigen Menschen zu Lasten der Solidargemeinschaft zurückgenommen werden muss.

Dem beschriebenen Ansinnen des Heimträgers sollte aus grundsätzlichen Erwägungen entgegen getreten werden. Es ist nämlich auch so, dass der Durchsetzung eines Behandlungsabbruches durch Einstellung der künstlichen Ernährung weder heimrechtliche Gründe noch Gewissenserwägungen einzelner Personen entgegen stehen können. Denn der BGH hat bereits in einem Beschluss vom 08.06.2005 – XII ZR 177/03 – in der Streitsache des Wachkomapatienten P. ausgeführt und klargestellt, dass heimrechtliche Erwägungen und die Freiheit des Gewissens von Pflegekräften die Patientenautonomie nicht einschränken können. Bei einer Abwägung widerstreitender Interessen habe das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu dominieren. – Und das ist auch gut so!

Im Übrigen bleibt noch anzumerken, dass sich die Gründe, aus denen ein Heimvertrag beendet werden darf und kann, im Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) abschließend geregelt sind. Dies ist zwingendes Recht, so dass ein zusätzlicher Beendigungstatbestand nicht durch eine Nebenabrede im Heimvertrag – als sog. „Gewissensklausel“ - geschaffen werden kann.

Werner Schell – Dozent für Pflegerecht und Vorstand von Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk

+++ Die vorstehende Pressemitteilung ist zur Veröffentlichung frei! +

Die Medien berichten zum Thema - u.a.:
http://www.openpr.de/news/501182.html
http://www.openbroadcast.de/article/792 ... eltig.html
http://www.hwelt.de/c/content/view/7421/1/
http://www.otextservice.com/medizin-ges ... tig-2.html
http://aktuelle-online-angebote.de/2011 ... kt-gelten/
http://www.presseanzeiger.de/infothek/g ... 432705.php
http://www.bz-mg.de/alles-was-recht-ist ... elten.html
http://www.krankenpflege-journal.com/pf ... elten.html
http://blog.24stundenbetreut.com/2010/1 ... -klarheit/
http://news.netpro.de/2011/01/patienten ... kt-gultig/
CAREkonkret, Die Wochenzeitung für Entscheider in der Pflege, hat in ihrer Ausgabe vom 21.01.2011 des Thema auf der Titelseite mit einem Beitrag von Werner Schell, ausgegriffen und ausführlich berichtet:
"Patientenverfügung: Heim will Rechtslage durch eigene Klauseln verändern - Keine Nebenabreden im Heimvertrag"
Das Thema wurde auch in der Süddeutschen Zeitung aufgegriffen:
Süddeutsche Zeitung, München, 05./06.02.2011, 67. Jahrgang, 5. Woche, Nr. 29, Seite 1

Patientenverfügung - Statement zur Durchsetzung super !

Verfasst: 15.01.2011, 11:25
von Cicero
Guten Morgen Team Werner Schell - Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk !

Ich habe die Pressemitteilung zur konsequenten Durchsetzung von Patientenverfügungen in (stationären) Pflegeeinrichtungen aufmerksam gelesen und kann nur sagen: meine Hochachtung. Das ist eine super Äußerung, die hoffentlich die gebührende Aufmerksamkeit findet. Die maßgeblichen Rechtsgrundsätze sind exakt benannt.

Ich danke für das Engagement, auch in dieser Forum für den Patientenschutz einzutreten.

Hochachtungsvoll - und ein schönes Wochenende!
Cicero

Selbstbestimmungsrecht der Patienten - auch am Lebensende

Verfasst: 16.01.2011, 18:47
von Rauel Kombüchen
Hallo,
die Pressemitteilung vom 14.01.2011 ist ein gutes und wohl nötiges Bekenntnis zur Patientenautonomie am Lebensende. Es kann nicht angehen, dass sich der Gesetzgeber und der BGH (Zivil- und Strafsenat) zur Patienten-Selbstbestimmung per Patientenverfügung bekennen, wenn anschließend Heimträger und Verbandsfunktionäre kommen können, um alles infrage zu stellen.
Ich denke, dass das Statement zur Klarstellung wichtig ist und weite Verbreitung verdient.
MfG Rauel K.

Patienten-Selbstbestimmung hat klar Vorrang

Verfasst: 17.01.2011, 07:40
von Gerhard Schenker
Ich stimme auch dem Statement von Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk gerne zu. Wenn es darum geht, dem Patientenwillen Geltung zu verschaffen, müssen Trickserein von Heimverantwortlichen, aus welchen Gründen auch immer, unterbunden werden. Das Patienten-Selbstbestimmungsrecht hat immer Vorrang, andere Erwägungen haben zurückzutreten.
G.Sch.

Nachgefragt - kirchliche Einrichtung ?

Verfasst: 17.01.2011, 09:12
von Lutz Barth
Interessehalber würde ich gerne nachfragen wollen, ob es sich bei dem Träger um eine kirchliche Einrichtung handelt.

Dies könnte insofern von Interesse sein, weil sich hier in einem besonderen Maße Gewissenskonflikte dergestalt ergeben können, in dem über die individuelle Gewissensfreiheit der Mitarbeiter hinaus zugleich auch staatskirchenrechtliche Fragen einschlägig sind.

Im Übrigen sei nochmals betont: Das Statement von Pro Pflege - Selbsthilfe Netzwerk spiegelt die derzeitige Rechtslage wider, wenngleich es Sinn machen könnte, um der Bedeutung der Grundrechte willen ein stückweit über den "Tellerrand" zu schauen.

Das "Recht" dient zur Befriedung sozialer Realkonflikte und in diesem Sinne könnte de lege ferenda zunächst rechtstheoretisch der Versuch unternommen werden, ob es nicht einen vertretbaren Weg gibt, die miteineinander konfligierende Grundrechte sowohl der Patienten als auch der Mitarbeiter sachgerecht zum Ausgleich zu bringen und zwar insbesondere unter Brücksichtigung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit.

Im Übrigen ist es ein Irrtum, wenn davon ausgegangen wird, dass das Selbstbestimmungsrecht stets bzw. immer Vorrang hat.

Dass das Statement von Werner Schell hier im Forum Zustimmung erfährt, ist bezogen auf die derzeitige Rechtslage jedenfalls mit Blick auf die patientenautonome Entscheidung am Lebensende nachvollziehbar, wenngleich es doch auch in der Folge darum gehen sollte, auf der Grundlage des Toleranzprinzips Lösungen zu suchen, die zugleich auch die Chance eröffnen, einen allgemeinen "Wertekonflikt" zu befrieden.

Ich denke, wir sollten zunächst nicht den Trägern oder anderen Mitdiskutanten "Tricksereien" unterstellen, sondern in Erwägung ziehen, dass diese eine vertrebare und zu akzeptierende Gewissensentscheidung getroffen haben. Dies zu leugnen, würde letztlich bedeuten, sich vom Grundrecht des Art. 4 GG zu verabschieden, da dessen Kern auf "Null" reduziert wird.

In jedem Falle sollte vermieden werden, hier in "Schwarz-Weiß-Denken" zu verfallen, auch wenn es derzeit besonders populär ist, einseitig orientiert das Selbstbestimmungsrecht der Patienten über Gebühr zu betonen. Gerade mit einer solchen Sichtweise stärkt man/frau im Übrigen die Verfechter eines strikten Lebensschutzes mit ihrer These, dass das Selbstbestimmungsrecht der Patienten einseitig überbetont wird.

Selbstbestimmungsrecht dominiert klar ....

Verfasst: 17.01.2011, 11:50
von Gaby Modig
Hallo,
ich denke, dass es entbehrlich ist, über irgendwelche kirchenrechtliche Grundsätze und verfassungsrechtliche Garantien nachzudenken. Die Patienten - Selbstbestimmung hat, wie sie hier in Rede steht, absoluten Vorrang - auch für die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Da müssen andere Erwägungen klar zurücktreten. Das ergibt sich aus den einschlägigen Entscheidungen des BGH. Siehe dazu auch den nachfolgenden Infotext.
Für mich jedenfalls ist die Rechtslage klar!
MfG Gaby

Siehe
http://www.bethel.de/fileadmin/Bethel/d ... nahmen.pdf
Es ist trotz möglicherweise entgegenstehender Vereinbarung im Heimvertrag dem Bewohner
/ der Bewohnerin jederzeit möglich, die Einwilligung zur künstlichen Ernährung
zu widerrufen.
Der Einrichtung steht kein (eigenes) Verweigerungsrecht gegen das Unterlassungsbegehren
des Bewohners / der Bewohnerin zu. Ebenso findet die individuelle Haltung der
Mitarbeitenden ihre Grenze am Selbstbestimmungsrecht des Bewohners / der Bewohnerin.
Die Gewissensfreiheit verleiht den Mitarbeitenden kein Recht, sich durch aktives
Handeln über das Selbstbestimmungsrecht des Bewohners/der Bewohnerin hinwegzusetzen
und ihrerseits in die körperliche Unversehrtheit des Bewohners/der Bewohnerin
einzugreifen.

> Für mich jedenfalls ist die Rechtslage klar <

Verfasst: 17.01.2011, 12:08
von Lutz Barth
... und da Sie dieses offensichtlich auch so empfinden, verehrte Frau Modig, möchte ich Sie keinesfalls vom Gegenteil überzeugen, zumal Sie es erkennbar für entbehrlich halten, über irgendwelche kirchenrechtliche Grundsätze und verfassungsrechtliche Garantien nachzudenken.
Leider können wir uns Juristen diesem Problem nicht mit einer gewissen Leichtigkeit entziehen, die freilich dem Laien gestattet ist.
Sofern Sie es für sinnvoll erachten, empfehle ich Ihnen einen Blick in die umfangreiche Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, wonach die hier zur Diskussion gestellten Probleme wohl nicht für "entbehrlich" gehalten werden dürfen.
Sei es drum. Möglicherweise wird in der Zukunft hierüber lebhaft diskutiert werden und dann bleibt es freilich hier dem Thread vorbehalten, die Diskussion wieder aufzunehmen.
Gruß

Re: > Für mich jedenfalls ist die Rechtslage klar <

Verfasst: 17.01.2011, 15:56
von Gaby Modig
Lutz Barth hat geschrieben:... Sofern Sie es für sinnvoll erachten, empfehle ich Ihnen einen Blick in die umfangreiche Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, wonach die hier zur Diskussion gestellten Probleme wohl nicht für "entbehrlich" gehalten werden dürfen. ...
Hallo Herr Barth,
danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mir konkret zu erwidern. Ich darf mich nun zur Sache noch einmal melden, weil mich die Abwägung der unterschiedlichen Rechte doch sehr interessiert.
Ich kann bislang nur erkennen, dass der BGH ganz heutlich die Patienten-Selbstbestimmung in den Mittelpunkt gerückt hat und dabei die Gewissensfreiheit, z.B. der MitarbeiterInnen einer Einrichtung, oder heimrechtliche Erwägungen, als nachrangig eingeordnet hat. Auch die kirchlichen Einrichtungen können insoweit keine Sonderstellung beanspruchen.
Welche konkrete Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts meinen Sie denn, die hier weiter hilft? Mir ist insoweit nichts aufgefallen. Auch bei Rückfragen bei einem Bekannten, er ist Jurist, konnte ich nicht fündig werden.
MfG Gaby Modig