"Nicht zur Last fallen wollen" - Umfrage

Rechtsbeziehung Patient – Therapeut / Krankenhaus / Pflegeeinrichtung, Patientenselbstbestimmung, Heilkunde (z.B. Sterbehilfe usw.), Patienten-Datenschutz (Schweigepflicht), Krankendokumentation, Haftung (z.B. bei Pflichtwidrigkeiten), Betreuungs- und Unterbringungsrecht

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Lutz Barth
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"Nicht zur Last fallen wollen" - Umfrage

Beitrag von Lutz Barth » 27.09.2010, 07:45

Wenn Schwersterkrankte „sterben“ und der Gemeinschaft nicht länger „zur Last fallen“ wollen …

stellt sich in Anbetracht aktueller Ethikdebatten die Frage, ob wir diesen Wunsch der sterbenden und schwersterkrankten Menschen akzeptieren sollten.

Hierzu würden wir gerne Ihre Meinung erfahren.

Was meinen Sie,

darf der Schwersterkrankte um einen alsbaldigen Tod nachsuchen (ggf. auch im Wege der Suizidassistenz), wenn er z.B. seinen Angehörigen oder der Gesellschaft mit Blick auf die Kosten nicht mehr zur Last fallen möchte?


>>> Zur Umfrage >>> http://altenpflegerecht-zeitschrift.de/ ... y=E56bsyeR

Wir hoffen auf eine rege Beteiligung.
Lutz Barth, 27.09.10
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thorstein
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Sterbewunsch und Suizidgedanken

Beitrag von thorstein » 27.09.2010, 13:29

Ich habe nun wirklich schon viele Gespräche mit Schwertskranken geführt, in denen es um einen Sterbewunsch und Suizidgedanken ging. Die Kosten haben dabei noch nie eine Rolle gespielt.

Mit einer Umfrage sollte ja auch ein Erkenntnisgewinn verbunden sein. Ob es Menschen gibt, die auch bei Suiziden assistieren würden, um "unnötige" Kosten zu vermeiden, interessiert mich eigentlich nicht.

Lutz Barth
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"Erkenntnisgewinn"

Beitrag von Lutz Barth » 27.09.2010, 14:00

Nun – der Erkenntnisgewinn liegt in Ihrer Antwort, Thorstein.

Es geht um die Entschärfung eines „Dammbruch/Last-Arguments“ – mithin also die Befürchtung um ein „sozialverträgliches Frühableben“ aus Kostengründen -, das gerne von den Gegenwartsethikern gebetsmühlenartig betont wird.

Gleichwohl wird nicht auszuschließen sein, dass ggf. die Schwersterkrankten sich auch von diesem Motiv bei ihrem Sterbewunsch leiten lassen.

Entscheidend aber freilich ist, dass das „Dammbruch-Argument“ bei der Frage der Legalisierung der ärztlichen Sterbehilfe nicht die Wirkung zeitigt, die ihr gerne beigemessen wird, mal ganz davon abgesehen, dass selbstverständlich der schwersterkrankte Patient sein Leiden und „Leben“ als lebensunwert qualifizieren darf.

Vgl. dazu im Übrigen aktuell mit Hinweis auf die Judikatur des BVerfG: „Dammbruch“ – Argument und Sterbehilfe: Was will uns das BVerfG sagen?, in BLOG >>>http://aerztliche-assistenz-beim-suizid ... rfg-sagen/ <<< (html)
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thorstein
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Beitrag von thorstein » 27.09.2010, 14:57

Sehr geehrter Herr Barth,

das ist doch nicht der eigentliche Kern des Dammbrucharguments.

Von ihrer Seite aus geht es um das Selbstbestimmungsrecht und - merkwürdigerweise - um Zumutbarkeitsregeln. Meist unerträgliche Schmerzen und der Tod steht unmittelbar bevor. Das rechtfertigt dann den ärztlich assistierten Suizid.

Das Dammbruchargument bezieht sich nun auf die Frage dieser Zumutbarkeitsregeln. Nehmen wir das aktuelle Beispiel: Suizid bei beginnender Demenz. Wer will einem selbstbestimmten Individuum zumuten, dass er alle Stadien dieser Krankheit zu durchlaufen hat? Damit wäre dann der ärztlich assisitierte Suizid gerechtfertigt und wir hätten derzeit eine Millionen Anspruchsberechtigte!

Diese Argumentation könnte man noch auf viele andere Krankheitsbilder anwenden: MS, schwere Depressionen, Parkinson...

Klingt doch nach Dammbruch?

Lutz Barth
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Dammbruch resp. Lastargument

Beitrag von Lutz Barth » 27.09.2010, 16:14

Verehrter Thorstein.

Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive man/frau sich des Dammbruch- oder Last-Arguments annimmt.

Es geht eben nicht um "Zumutbarkeitserwägungen und -regelungen", sondern ausnahmslos um die Binnenperspektive des Individuums, der sich auf sein Selbstbestimmungsrecht beruft. Insofern kann in der Tat über mehr als 1 Million Anspruchsberechtigte nachgedacht werden, wenngleich es dem Gesetzgeber freilich anheimgestellt ist, die Suizidassistenz auf bestimmte Fallkonstellationen zu begrenzen, jedenfalls in den Fällen, in denen wir über eine ärztliche Suizidassistenz bei schwersterkrankten und sterbenden Patienten nachdenken.

Entscheidend aber ist, dass der Patient sein Leben für "lebensunwert" erachten darf, auch wenn er damit ein "unmoralisches Argument" bemüht, bei dessen allgemeiner Akzeptanz der Rubikon überschritten wird und selbstverständlich darf der Patient auch einen "schnellen Tod" vorziehen, wenn und soweit er meint, seinen "Kindern" nicht mehr zur Last fallen zu wollen.

Wenn der gesunde Mensch für den Fall der späteren Demenz meint, infolge einer weiteren Sekundärerkrankung keine ärztlichen Therapien mehr in Anspruch nehmen zu wollen, werden wir diesen Willen respektieren müssen so wie wir uns mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass er auch für den Fall einer Schwersterkrankung ggf. um ärztliche Suizidhilfe nachsuchen kann, wenn und soweit er eben dieses "Leben" für nicht lebenswert qualifiziert und zwar ungeachtet der Tatsache, ob andere Zeitgenossen die Demenz als Krankheit "verklären".

Nicht Dritte oder die Gesellschaft geben die "Wertkategorie" vor, auf die sich der Patient beruft, sondern einzig der Patient: In diesem Punkte erteile ich also der Kollektivmoral eine Absage.
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Dammbruch resp. Lastargument

Beitrag von thorstein » 27.09.2010, 17:30

Sehr geehrter Herr Barth,

ihre Argumentation ist mir inzwischen bekannt, auch wenn sie sich, was die Zumutbarkeitserwägungen betrifft, nicht immer daran halten.

Das Dammbruchargument wird daher von ihnen im vollen Umfang bestätigt. Es geht eben nicht um ein paar wenige Schmerzpatienten im Finalstadium.

Dann muss dass aber auch so diskutiert werden, und darin sehe ich durchaus eine Verschärfung des Dammbrucharguments.

Lutz Barth
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Nochmals "Dammbruch"

Beitrag von Lutz Barth » 27.09.2010, 18:01

Mit Verlaub, Thorstein: Das "Dammbruch-Argument" spielt in meiner Interpretation des Selbstbestimmungsrechts jedenfalls mit Blick auf die eigene Regie für den eigenen Tod keine Rolle - mehr noch: es dient lediglich dazu, die Argumentationslosigkeit der Lebensschützer-Fraktion zu überdecken, wenn und soweit es darum geht, sich auf eine dogmatisch gebotene Diskussion um den Grund und die Reichweite des Selbstbestimmungsrechts einzulassen.
In diesen Fällen wird zuvörderst die "Spreu vom Weizen" zu trennen sein, zumal offensichtlich der "Dammbruch" mit einer Vielzahl von möglichen Fällen gleichgesetzt wird, auf die es aber nicht ankommt! Dies deshalb nicht, weil es keinen Konsens für das selbst bestimmte Sterben und damit den eigenen Tod bedarf und sofern dann in der Folge die prognostizierte Zahl der möglichen Demenzerkrankten eintritt und diese meinen, einen Suizid begehen zu wollen, der ggf. auch ärztlich unterstützt wird, verbleibt es eben jeweils bei einem Einzelfall, dem eine selbstbestimmte und freiverantwortliche Entscheidung zugrundeliegt.

2 Millionen Demenzkranke können also den Rubikon überschreiten und dennoch handelt es sich hierbei um keinen "Dammbruch! Dieser vermeintliche Dammbruch wäre nur dann zu verhindern, wenn wir einer Ethik das Wort reden, in dem gleichsam das Selbstbestimmungsrecht denaturiert und mit "moralischen Pflichten" belegt wird - eine Intention, die sich nun wahrlich in einigen zeitgenössischen Beiträgen zur Ethik im Allgemeinen und zur Palliativmedizin im Besonderen widerspiegelt.
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Beistand auch in schweren Lagen

Beitrag von Hildegard Kaiser » 10.10.2010, 16:45

Ich glaube, dass es unter keinen Umständen hinnehmbar ist, dass Menschen nur deshalb den Tod wünschen sollen / müssen, nur, um andere nicht zur Last zu fallen. Eine Gesellschaft muss solidarisch bleiben.

Hilde
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Lutz Barth
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Was aber folgt daraus?

Beitrag von Lutz Barth » 11.10.2010, 06:46

"Ich glaube, dass es unter keinen Umständen hinnehmbar ist, dass Menschen nur deshalb den Tod wünschen sollen / müssen, nur, um andere nicht zur Last zu fallen. Eine Gesellschaft muss solidarisch bleiben."


Dann wäre im Zweifel der Schluss geboten, dass wir der selbstbestimmten Entscheidung des schwersterkrankten Patienten nicht zu entsprechen haben, "nur" weil dieser meint, im Zweifel aufgrund seiner Schwersterkrankung seinen Angehörigen nicht mehr zur Last fallen zu wollen. Nun - ich meine, dies würde dem Selbstbestimmungsrecht nicht gerecht werden, zumal wir über das Motiv eines Sterbewunsches nicht zu "urteilen" haben.
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Patientenwille ist entscheidend

Beitrag von Dieter Radke » 23.10.2010, 09:51

Ich denke, dass es immer entscheidend auf den frei geäußerten Patientenwillen ankommen muss, gleich, durch welche Motive er gesteuert wird.

Dieter Radke
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PflegeCologne
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Patientenwille ist entscheidend

Beitrag von PflegeCologne » 26.10.2010, 07:14

Dieter Radke hat geschrieben: .... Ich denke, dass es immer entscheidend auf den frei geäußerten Patientenwillen ankommen muss, gleich, durch welche Motive er gesteuert wird.
Guten Morgen,
ich denke auch, dass im Vordergrund aller Erörterungen der Patientenwille stehen muss. Dabei sollten natürlich Bedingungen gegeben sein, die eine freie Entscheidung, ohne Rücksichtnahmen, zulassen.
LB Grüße Pflege Cologne
Alzheimer - eine Krankheit, die mehr Aufmerksamkeit erfordert! - Pflegesystem muss dem angepasst werden, auch, wenn es teurer wird! - Ich bin dabei:
http://www.pro-pflege-selbsthilfenetzwerk.de

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Suizid im Alter reguliert sich nicht von selbst

Beitrag von Presse » 10.09.2011, 06:40

Suizid im Alter reguliert sich nicht von selbst. Steigende Zahlen bei den über 60-Jährigen. Selbsttötung ist ein Schrei nach Hilfe, den die Politik nicht hört.

Berlin. Im vergangenen Jahr haben sich 9.616 Menschen in Deutschland das Leben genommen. Darunter dreimal so viele Männer wie Frauen. Eine weitere bedrückende Zahl: 40 Prozent der Menschen, die sich selbst getötet haben, waren über 60 Jahre alt. Tendenz in dieser Altersgruppe: steigend. Dabei beträgt der Anteil der über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung nur 26 Prozent. Der Geschäftsführende Vorstand der Deutschen Hospiz Stiftung, Eugen Brysch, erläutert, warum die Proportionen so unterschiedlich sind: "Die Menschen haben Angst davor, abhängig zu werden. Sie haben Angst vor schlechter Pflege. Sie sind einsam. Sie leiden unter Depressionen." Laut aktueller R+V-Studie haben 54 Prozent der Deutschen Angst, im Alter zum Pflegefall zu werden. Bereits 2004 besagten die Ergebnisse einer Berliner Studie, dass die Menschen lieber Suizid begehen, als zum Pflegefall zu werden. "Seitdem hat sich aber nichts geändert. Selbsttötungen bei älteren Menschen sind weiterhin ein Tabuthema. Da ist die Politik gefordert", meint Eugen Brysch, anlässlich des morgigen Weltsuizidpräventionstags. Es fehlen Neurologen und Psychotherapeuten, die sich mit Depressionen im Alter beschäftigen. Nur fünf Prozent der Pflegeheime werden wöchentlich von Neurologen besucht. 24 Prozent der Heime hatten noch nie einen Psychiater im Haus. "Wir als Patientenschützer fordern ein Strategiepapier, das Bund, Länder und Kommunen zum Handeln zwingt", fordert Brysch. "Suizid älterer Menschen darf nicht länger als unausweichlich hingenommen werden." Die Deutsche Hospiz-Stiftung fordert von Bundesgesundheitsminister Bahr ein überzeugendes Konzept, wie in den nächsten zehn Jahren die Suizidrate bei alten Menschen halbiert werden kann. Eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen wie bei der Halbierung der Zahl der Verkehrstoten hat gezeigt, dass dies tatsächlich möglich ist.

Quelle: Pressemitteilung vom 09.09.2011

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