Mordserie des verurteilten früheren Krankenpflegers Niels H.: Vorgesetzte und Kollegen freigesprochen

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WernerSchell
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Mordserie des verurteilten früheren Krankenpflegers Niels H.: Vorgesetzte und Kollegen freigesprochen

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Verfahren gegen Beschäftigte aus den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst - Freispruch für alle Angeklagten -


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Im heutigen Termin (13.10.2022) hat die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Oldenburg alle Angeklagten in sämtlichen Anklagepunkten im Zusammenhang mit den Morden des ehemaligen Krankenpflegers Niels Högel freigesprochen.

Bereits zuvor hatten die Staatsanwaltschaft Oldenburg und die Nebenklage sowie sämtliche VerteidigerInnen einen Freispruch gefordert. In ihrem letzten Wort schlossen sich sämtliche Angeklagten den Ausführungen ihrer Verteidiger an.

a) Verfahren gegen Mitarbeiter des Klinikums Oldenburg

aa) Nachweis einer Tatbegehung durch den Aktivtäter Niels Högel in zwei Fälle
Die Kammer sah, ebenso wie die Staatsanwaltschaft, durch das Ergebnis der Beweisaufnahme Manipulationen des Niels Högel im Klinikum Oldenburg an zwei Patienten zumindest mit Kalium als belegt an. Dies ergab sich für die Kammer insbesondere aus den gutachterlichen Darstellungen der Sachverständigen Professor Dr. von Knobelsdorf und Professor Dr. Koppert.
Hinsichtlich eines weiteren Patienten, der gemäß Anklageschrift durch die nicht indizierte Verabreichung von Amiodaron von Niels Högel am 20.11.2001 getötet worden sein soll, konnte nach dem Grundsatz in dubio pro reo aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung eine zum Tode führende Manipulation durch Niels Högel - und schon aus diesem Grund eine Beihilfehandlung der Freigesprochenen - nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Gewissheit festgestellt werden. Aufgrund der gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen Professor Dr. Koppert ist davon auszugehen, dass dieser Patient während seines stationären Aufenthalts im Sankt Bonifatius Hospital in Lingen mehrfach das Medikament Amiodaron auch ärztlich verordnet erhalten hatte.

bb) Kein vorsätzliches Handeln
Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung hat weiterhin kein vorsätzliches Handeln der vier freigesprochenen Beschäftigten aus dem Klinikum Oldenburg belegt.

Zur Verurteilung wegen Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen hätte es der Feststellung bedurft, dass die Freigesprochenen zum Zeitpunkt der einzelnen Tathandlungen des Niels Högel jeweils Vorsatz hatten. Nach der Rechtsprechung des BGH zu Tötungsdelikten ist hierfür sowohl die Feststellung eines Wissens um die Tatbegehung als auch die Feststellung eines Willenselements in jedem Einzelfall erforderlich. Hierzu bedarf es der gesonderten Prüfung jedes Einzelfalls, wobei zu klären ist, ob die innere Tatseite im Sinne des Vorsatzes durch tatsächliche Feststellungen belegt werden kann.

Zwar geht die Kammer davon aus, dass sich im Klinikum Oldenburg durchaus ein beträchtliches Misstrauen gegenüber dem Krankenpfleger Niels Högel entwickelt hatte, welches sich im Laufe der Zeit noch steigerte.

Allerdings belegen aus Sicht der Kammer die zu Tage getretenen Vorbehalte nicht mit der erforderlichen Gewissheit den Nachweis eines vorsätzlichen Handelns im Hinblick auf eine Beihilfe zu einem Tötungsdelikt durch Unterlassen.

Ein auch deutliches Unbehagen gegenüber dem Verhalten des Niels Högel ist für die Feststellung vorsätzlichen Verhaltens nicht ausreichend.

Erforderlich wären konkrete Feststellungen gewesen, aus denen abzuleiten wäre, dass die jeweiligen angeklagten Beschäftigten des Klinikums Oldenburg im Zeitraum des Versterbens der drei Patienten, also vom 17.11.2001 bis 26.11.2001 von den zum Tode führenden Manipulationen durch den Krankenpfleger Niels Högel gewusst oder zumindest damit gerechnet haben und auch der Tod dieser Patienten billigend in Kauf genommen worden wäre.

Hinreichend konkrete Anhaltspunkte für derartige Feststellungen hat die Beweisaufnahme aus Sicht der Kammer nicht ergeben.

Vielmehr spricht insbesondere der Umstand, dass der Krankenpfleger im Dezember 2001 noch innerhalb des Klinikums Oldenburg selbst die Abteilung wechseln konnte, gegen die Annahme eines derartigen Vorsatzes bei den medizinischen wie arbeitsrechtlichen Vorgesetzten.

Auch eine von dem freigesprochenen pflegerischen Leiter der Kadiochirurgischen-Intensivstation geführte Strichliste, welche eine Verbindung zwischen Todesfällen und Niels Högel darstellen soll, war aus Sicht der Kammer nicht geeignet, den Beleg zu erbringen, dass die freigesprochenen Beschäftigten aus dem Klinikum Oldenburg zum Zeitpunkt der Manipulationen im November 2001 Kenntnis von Taten zum Nachteil von Patienten hatten. Denn der Zeitpunkt der Erstellung dieser Liste ist unklar. Im Hinblick darauf, dass die Liste selbst Bezug auf einen Wechsel der Abteilung durch Niels Högel nimmt, erscheint es durchaus möglich, dass diese erst nach den angeklagten Tötungsdelikten im November 2001 erstellt wurde. Sie konnte somit eine Kenntnis der Freigesprochenen im Zeitraum November 2001 nicht belegen.

Gleiches gilt auch für eine etwaige Kaliumkonferenz. Im Rahmen der Beweisaufnahme ließ sich weder ein konkreter Zeitpunkt derselben bestimmen, noch ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass es in dieser um die Person Niels Högel ging.

b) Verfahren gegen Mitarbeiter des Klinikums Delmenhorst

aa) Nachweis einer Tatbegehung durch den Aktivtäter Niels Högel
Die Kammer geht im Hinblick auf die freigesprochenen Beschäftigten aus dem Klinikum Delmenhorst davon aus, dass Niels Högel sämtliche bereits in der Anklageschrift genannten Manipulationen begangen hat.

bb) kein vorsätzliches Handeln
Auch für den Komplex Klinikum Delmenhorst konnte die Kammer jedoch ein vorsätzliches Handeln der drei freigesprochenen Beschäftigten nicht feststellen.

Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung hat zwar ein allgemeines, im Laufe der Zeit ansteigendes Misstrauen belegt, welches sich nach dem Sterbefall Maaß, also ab dem Nachmittag des 22.06.2005 zudem noch verdichtet hatte.

Ein auch nur bedingter Vorsatz der Freigesprochenen ließ sich daraus jedoch nicht herleiten.

Im Rahmen der Beweisaufnahme, insbesondere durch die eingehende Vernehmung zahlreicher Mitarbeiter des Klinikums Delmenhorst, konnte nicht festgestellt werden, dass die freigesprochenen Beschäftigten den Tod von Patienten als Folge einer Nichthandlung tatsächlich erkannt und auf dessen Ausbleiben nicht vertraut haben.

Dabei hat die Kammer hinsichtlich der freigesprochenen Stellvertreterin der Stationsleitung Pflege der Intensivstation berücksichtigt, dass diese nach dem Versterben eines Patienten durch eine Pflegekraft über den Fund von leeren Gilurythmal-Ampullen informiert worden war. Diese Information mag das ohnehin bereits vorhandene Misstrauen schon zu diesem Zeitpunkt deutlich verstärkt haben. Gleichwohl lässt sich auch bei dieser Freigesprochenen daraus nicht ein zumindest bedingter Vorsatz im Hinblick auf ein Tötungsdelikt herleiten. Bei ihr ist bereits das voluntative Vorsatzelement nicht hinreichend belegt. Angesichts ihrer in der Krankenhaushierarchie eher niederrangigen Stellung liegt die Annahme einer Billigung von Tötungen, etwa um den Ruf der Klinik oder der Abteilung nicht zu gefährden, fern. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist ihr zudem durch ihren Vorgesetzten, dem gesondert verfolgten Stationsleiter Pflege der Intensivstation, klargemacht worden, dass sie sich mit derartigen Verdächtigungen zurückzuhalten habe und nicht ihre Kompetenzen überschreiten solle.

Auch die Umstände des Versterbens der letzten von Högel getöteten Patientin am 24.06.2005 waren nicht geeignet einen Vorsatz der freigesprochenen Beschäftigten aus dem Klinikum Delmenhorst zu belegen.

Die Beweisaufnahme, insbesondere die Vernehmung der Zeugin Dr. Stroh unter anderem zu einem Gespräch in der „Gyn-Schleuse“ hat ergeben, dass auch nach dem Versterben des Patienten Maaß und der spätestens am Nachmittag des 24.06.2005 bekannten Ergebnisses der Untersuchung seines Blutes unter den Beteiligten weiterhin eine große Unsicherheit herrschte, ob und inwieweit eine Manipulation dieses Patienten dem Krankenpfleger Högel angelastet werden könne oder nicht.

Die Zeugin Dr. Stroh hat im Rahmen ihrer Vernehmung glaubhaft und authentisch diese auch zu diesem Zeitpunkt noch gegebene Unsicherheit dargestellt. So habe man insbesondere aufgrund urlaubsbedingter Abwesenheit verschiedener, den Patienten Maaß zuvor behandelnder Klinikärzte, nicht sicher abschätzen können, ob nicht diese ihrem Patienten das Medikament Gilurythmal medizinisch indiziert verabreicht hatten.

Auch ansonsten haben sich durch die Beweisaufnahme aus Sicht der Kammer keine hinreichenden Umstände ergeben, die mit der erforderlichen Gewissheit den Schluss auf ein auch nur bedingt vorsätzliches Verhalten der freigesprochenen Mitarbeiter des Klinikums Delmenhorst zulassen.

c) Fahrlässigkeitsvorwürfe
In Betracht kommende etwaige Fahrlässigkeitsvorwürfe (fahrlässige Tötung bzw. fahrlässige Körperverletzung, §§ 222, 229 StGB) sind verjährt. Auch insoweit kam allein ein Freispruch der Angeklagten in Betracht.

Hintergrund:

Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hatte gegen Beschäftigte aus den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst zwei Anklagen in Zusammenhang mit der Mordserie des ehemaligen Krankenpflegers Niels Högel erhoben. Beide Verfahren wurden verbunden.

Der Oldenburger-Teil des Verfahrens betraf drei Todesfälle im Klinikum Oldenburg, die sich im November 2001 während der dortigen Tätigkeit des ehemaligen Krankenpflegers Niels Högel ereignet haben sollen.

Bei den Angeklagten handelte es sich um den ehemaligen Geschäftsführer des Klinikums, einen ehemaligen ärztlichen Leiter der kardiochirurgischen Intensivstation, einen Leiter des Bereichs Pflege der kardiochirurgischen Intensivstation und eine ehemalige Pflegedirektorin des Klinikums. Die Anklagevorwürfe lauteten auf Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen in drei Fällen.

Der Delmenhorster-Teil des Verfahrens betraf Todesfälle im Klinikum Delmenhorst, die sich im Mai und Juni 2005 während der dortigen Beschäftigung des ehemaligen Krankenpflegers Niels Högel ereignet haben sollen.

Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hatte in ihrer Anklageschrift zwei Oberärzten, einem gesondert verfolgten Stationsleiter Pflege der Intensivstation und seiner Stellvertreterin in unterschiedlicher Anzahl die (versuchte) Tötung von insgesamt fünf Patienten durch Unterlassen vorgeworfen. Der angeklagten Stellvertreterin der Stationsleitung Pflege der Intensivstation wurden fünf Tötungsdelikte, davon zwei Versuchstaten, dem gesondert verfolgten Stationsleiter Pflege der Intensivstation waren vier Tötungsdelikte, davon eine Versuchstat, und den angeklagten Oberärzten jeweils ein Tötungsdelikt zur Last gelegt worden.

Unter Berücksichtigung der rechtlichen Einschätzung der Schwurgerichtskammer im Verfahren gegen die Beschäftigte des Klinikums Oldenburg hatte die Schwurgerichtskammer bereits nach Anklageverlesung erklärt, dass auch für die Beschäftigten aus dem Klinikum Delmenhorst rechtlich lediglich eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zur (versuchten) Tötung durch Unterlassen in Betracht komme.

Das Verfahren gegen den bisher mitangeklagten Stationsleiter Pflege der Intensivstation des Klinikums Delmenhorst ist von der Schwurgerichtskammer abgetrennt worden, da dieser aufgrund einer schweren Erkrankung derzeit nicht verhandlungsfähig ist.

Quelle: Pressemitteilung des Landgerichts Oldenburg vom 13.10.2022
> https://landgericht-oldenburg.niedersac ... 16227.html


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Siehe auch unter
> viewtopic.php?f=4&t=252&p=3148&hilit=Niels#p3148
> https://www.wernerschell.de/forum/neu/v ... ls#p117670
> http://170770.eu1.cleverreach.com//c/40 ... 6a6f7ab376
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