"Einbecker Empfehlungen" zu Rechtsfragen der Telemedizin
8. Einbecker Workshop (1999)
1. Telemedizin ermöglicht oder unterstützt in Überwindung räumlicher
Entfernungen medizinische Dienstleistungen durch die kombinierte Anwendung von
Telekommunikation und Informatik (Telematik). Die Anwendungsmöglichkeiten der Telemedizin
haben in den vergangenen Jahren an Qualität und Quantität zugenommen. Damit ist kein
neues Fachgebiet der Medizin entstanden. Vielmehr vermehren sich die Möglichkeiten,
medizinische Dienstleistungen in ihrer Qualität und Effizienz zu steigern. So kann z.B.
Expertenwissen unter Aufhebung zeitlicher und räumlicher Grenzen für den Patienten zur
Verfügung gestellt werden.
2. Durch das fehlende Erfordernis einer zeitlichen und räumlichen Koinzidenz der
Handelnden sind die telemedizinischen Dienstleistungen prädestiniert für den
sektorübergreifenden Einsatz. Telemedizin kann daher zur Lösung der Probleme beitragen,
die sich aus der Trennung des ambulanten und stationären Sektors ergeben.
3. Die Anwendungsmöglichkeiten der Telemedizin unterscheiden sich vornehmlich in ihren
Auswirkungen auf das Behandlungsverhältnis:
- Einsatz von Telemedizin im Hintergrund des Behandlungsverhältnisses, so
z.B. zur ärztlichen Fortbildung, externen Archivierung oder anonymisierten second
opinion (ergänzende Telemedizin);
- Einsatz von Telemedizin zur Einbindung eines Spezialisten als
Konsiliararzt oder Mitbehandler und
- eigenständige telemedizinische Arzt-Patienten-Beziehung (sog. cyberdoc).
4. Telemedizin wirft besondere rechtliche Fragestellungen in den Bereichen
auf, in denen der einheitlichen Betrachtung von Gesundheitsdienstleistungen
unterschiedliche Rechtsnormen entgegenstehen. Die im Zusammenhang mit der Telemedizin zu
lösenden Probleme und Aufgaben werden in den nachfolgenden Empfehlungen zusammengefasst.
5. Telemedizin erfordert Zusammenarbeit, wo bislang Einzelleistungen dominierten. Sie
bietet zusätzliche Chancen für den Patienten, in dem sie verbindet und vernetzt, wo
früher Spezialisierung und Sektorierung vorherrschten. Sie kann durch den erheblich
gesteigerten Informationsfluss und die verbesserte Verfügbarkeit von Spezialwissen zu
einem besseren Verständnis seitens des Patienten beitragen. Dadurch kann dem Patienten
eine wirksamere Entscheidungshilfe für den informed consent gegeben werden. Der
Patient kann eine stärkere eigene Verantwortung im Behandlungsprozess übernehmen und
helfen, den Erfolg der medizinischen Massnahmen abzusichern.
6. So leistet Telemedizin einen Beitrag zur Unterstützung des Patienten auf seinem Weg
zum gleichberechtigten und eigenverantwortlich handelnden Partner im Gesundheitswesen. Sie
darf aber nicht zum Selbstzweck werden, sondern soll zu einer qualitativen Verbesserung
der medizinischen Versorgung führen. Sie fördert eine umfassende Betrachtung des
Patienten, und stärkt damit die Entwicklung einer vertrauensvollen und
partnerschaftlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient.
7. Der Grundsatz der "persönlichen Leistungserbringung" muß im Hinblick auf
Telemedizin modifiziert werden. Telemedizin darf das persönliche Gespräch und die
persönliche Diagnostik oder Therapie nur dann ersetzen, wenn nennenswerte Defizite im
Vergleich zum unmittelbaren Arzt-Patient-Kontakt nicht zu erwarten sind.
8. Die von der Rechtsprechung entwickelten und im Berufsrecht verankerten Grundsätze zur
unzulässigen Fernbehandlung gelten auch in der Telemedizin. So sind bspw.
telechirurgische Eingriffe, bei denen das Behandlungsgeschehen von einem Arzt dominiert
wird, der nicht unmittelbar vor Ort eingreifen kann, unzulässig.
9. Die in der Telemedizin liegenden Möglichketen zur Steigerung von Qualität und
Effizienz können erst dann vollständig genutzt werden, wenn technische Fehlerquellen und
Medienbrüche durch Verwendung übergreifender und einheitlicher Austauschformate
vermieden werden. Dies erfordert einen hohen Grad der Harmonisierung der
Kommunikationsstandards.
10. Die Entscheidungen über Entwicklung, Ausbau und Anwendung der Telemedizin dürfen
nicht allein den Krankenkassen und Krankenversicherungen überlassen werden. In einem
solidarischen Gesundheitswesen müssen sich die Leistungsträger mit den
Leistungserbringern und den Versicherten über den Umfang der notwendigen und zu
finanzierenden Innovation verständigen. Hierzu müssen auch adäquate
Leistungsbewertungen für die telemedizinischen Dienstleistungen in die Vergütungssysteme
aufgenommen werden. Die Weiterentwicklung der Vergütungssysteme muss auch die Vergütung
von grenzüberschreitenden Leistungen berücksichtigen. Dies erscheint besonders notwendig
innerhalb der EU, da hier die passive Dienstleistungsfreiheit die Einführung eines
staatenübergreifenden Kostenerstattungsmechansimus erfordert.
11. Auch bei telemedizinischen Anwendungen muss vor Ort der Facharztstandard für den
Patienten gewährleistet sein. Der Umstand, dass durch telemedizinische Anwendungen ein
über dem Standard liegendes Expertenwissen einfliessen kann, führt allein nicht zu einer
Veränderung dieses Standards.
12. Der Grundsatz der Methodenfreiheit des Arztes gilt auch in der Telemedizin. Der Arzt
hat die Freiheit, die seiner Ausbildung, Erfahrung und Praxis entsprechende Methode
auszuwählen. Telemedizinische Anwendungen werden erst dann zum Standard, wenn ihr Nutzen
im wesentlichen unbestritten ist, sie in der Praxis nicht nur an wenigen Zentren
verbreitet und für den jeweiligen Patienten risikoärmer oder weniger belastend sind oder
eine bessere Heilungschance versprechen.
13. Der Patient ist über die besonderen Risiken einer telemedizinischen Anwendung
aufzuklären.
14. Erst wenn eine telemedizinische Anwendung zum Standard geworden ist, ist der Arzt in
einer Klinik oder Praxis, der diese Anwendung selbst nicht anbietet, verpflichtet, auf
eine solche, andernorts bestehende Möglichkeit hinzuweisen. Vorher besteht auch keine
Aufklärungspflicht nach den Regeln der erhöhten Aufklärung bei Behandlungsalternativen.
15. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Dokumentation telemedizinischer Anwendungen
lassen die Grundsätze der ärztlichen Dokumentationspflicht unberührt. Darüber hinaus
müssen Herkunft, Qualität und Unversehrtheit der übermittelten Daten nachvollziehbar
sein.
16. Haftungsrechtsrechtlich ist der vom Primärbehandler im Rahmen einer telemedizinischen
Anwendung hinzugezogene Arzt Konsiliararzt, es sei denn, er beherrscht das
Behandlungsgeschehen und wird damit zum Mitbehandler. Der Konsiliararzt ist im
stationären Bereich bei Vorliegen eines gespaltenen Krankenhausvertrages oder
Belegarztvertrages und im ambulanten Bereich meist Vertragspartner des Patienten und
haftet diesem aus Vertrag. Besteht mit dem Patienten ein totaler
Krankenhausaufnahmevertrag ist der Konsiliararzt Erfüllungsgehilfe des
Krankenhausträgers. Für eigene Fehler haftet der Konsiliararzt nach den allgemeinen
haftungsrechtlichen Grundsätzen. Auch bei Bindung an den Auftrag hat der Konsiliararzt
eigene Prüfungspflichten. Übersieht er offensichtliche Fehler des Primärbehandlers,
haftet er wegen mangelnder Plausibilitätskontrolle. Für Fehler aus der Kommunikation und
Organisation der telemedizinischen Anwendung treten die Grundsätze des
Organisationsverschuldens in den Vordergrund.
17. Um Kollisionen nationaler Rechtsnormen im Bereich der ärztlichen Haftung zu
vermeiden, sollten Arzt und Patient bei staatenübergreifenden telemedizinischen
Anwendungen eine Rechtswahl- und eine Gerichtsstandsvereinbarung treffen. Die
internationalen Bemühungen um eine staatsvertragliche Regelung telemedizinischer
Haftungsprobleme sind zu unterstützen.
18. Gegenwärtig geht der Datenschutz auf die Anforderungen der Informationstechnik nicht
ein. Er berücksichtigt weder die besonderen Bedingungen neuer Technologien noch
reflektiert er die Frage, ob die hergebrachten Datenschutzprinzipien einen angemessenen
Regelungsansatz bieten können. Auch die nach der EU - Datenschutzrichtlinie zu
novellierende Datenschutzgesetzgebung wird zu den wesentlichen Fragestellungen der
Telemedizin wohl keine hinreichenden Antworten bieten. Daher ist zu prüfen, ob nur eine
besondere Kodifikation zum Schutz von Gesundheitsdaten in der Lage ist, bestehende
Schutzlücken zu schliessen oder ob die Ergänzung des bestehenden Datenschutzrechts
ausreicht. Jedenfalls sollten die spezifischen Bedingungen von Praxis und Forschung in der
Medizin und die Verwertung der dabei entstehenden Daten angemessener berücksichtigt
werden, als dies durch das gegenwärtig geltende, allgemeine Datenschutzrecht der Fall
ist. Die dabei entstehende Rechtssicherheit würde eine patientenorientierte
Weiterentwicklung der Telemedizin gewährleisten.
19. Bei telemedizinischen Anwendungen muss sichergestellt werden, dass die
Datenübermittlung durch die Einwilligung des Patienten legitimiert ist. Hierzu ist der
Patient über ihren Umfang, ihre Risiken und die Alternativen der Datenübermittlung
aufzuklären. Die Einwilligung sollte schriftlich erfolgen und muss dokumentiert werden.
Bei Datenübermittlungen in Länder außerhalb der EU sind besondere Schutzvorkehrungen
oder eine gesonderte schriftliche Einwilligung des Patienten geboten.
20. Es liegt im Interesse einer größtmöglichen Datensicherheit, die übermittelte
Datenmenge bei telemedizinischen Anwendungen auf das absolut Notwendige zu beschränken
(Minimalprinzip, Anonymisierung, Pseudonymisierung). Die Datensicherheit gebietet im
übrigen die Verwendung von allgemein anerkannten Sicherungsverfahren nach dem jeweils
aktuellen Stand der Verschlüsselungstechnik und digitalen Signaturverfahren. Dennoch ist
eine absolute Datensicherheit nicht erreichbar, zumal nicht auszuschliessen ist, dass die
Fortentwicklung der Kryptographie in der Zukunft eine Entschlüsselung der heute als
sicher geltenden Daten möglich macht. Diese Aspekte stehen einer Anwendung der
Telemedizin nicht entgegen. Eine Abwägung der Risiken und Vorteile kann aber zu
Einschränkungen führen.
Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V. Einbeck, 31.10.1999
Hinweis: Der Tagungsband "Rechtsfragen der Telemedizin"
Herausg.: Dierks, C., H. Feussner u. A. Wienke erscheint demnächst in der Schriftenreihe
Medizinrecht im Springer Verlag, Heidelberg
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