Fristlose Kündigung einer Kassiererin unwirksam

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Fristlose Kündigung einer Kassiererin unwirksam

Beitrag von Presse » 25.02.2009, 08:48

Vorbemerkung der Moderation:

Die nachfolgenden Texte müssen im Lichte der unten stehenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 10.06.2010 neu bewertet werden. Im Falle der Kassiererin "Emmely" war die ausgesprochene und heftig diskutierte fristlose Kündigung unwirksam. Das unrechtmäßige Einlösen aufgefundener Leergutbon hätte nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts auch mit einer Abmahnung ausreichend geahndet werden können.
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Landesarbeitsgericht Berlin:
Kündigung einer Kassiererin wegen Verwendung von Leergutbons zum eigenen Vorteil war rechtens

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat heute das Urteil im Kündigungsrechtsstreit einer vom Arbeitgeber fristlos gekündigten Kassiererin verkündet und die Kündigung, wie schon das Arbeitsgericht in erster Instanz, auch in zweiter Instanz als rechtmäßig bezeichnet.

Die seit 1977 als Kassiererin beschäftigte Klägerin habe 2 ihr nicht gehörende Leergutbons im Werte von 0,48 und 0,82 Cents unrechtmäßig aus dem Kassenbüro entnommen und für sich selbst eingelöst. Dies stehe zur Überzeugung des Berufungsgerichts anhand der von der Klägerin selbst eingeräumten Umstände, anhand der weiteren unstreitigen Umstände wie des Kassenjournals und anhand der Zeugenaussagen fest. Die die Klägerin belastenden Zeugenaussagen hat das Gericht als glaubhaft eingestuft.

Dieses Verhalten der Klägerin stellte auch nach Auffassung des Berufungsgerichts einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB dar, der es für den Arbeitgeber als unzumutbar erscheinen ließ, die Klägerin auch nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiterzubeschäftigen.

Das Gericht hat dabei zunächst die Voraussetzungen einer „Verdachtskündigung“ als erfüllt angesehen. Soweit die Klägerin gegen das in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsge-richts völlig unangefochtene Institut der Verdachtskündigung Bedenken erhoben hatte, hat es solche als nicht gerechtfertigt angesehen. Anders als von der Klägerin – und in Teilen der Öffentlichkeit – dargestellt, genüge für eine Verdachtskündigung nicht ein „bloßer“ Verdacht auf eine Straftat. Voraussetzung sei vielmehr das Vorliegen eines „dringenden“ Verdachts einer Straftat, der sich auf objektive Tatsachen, nicht aber auf bloße Unterstellungen des Arbeitgebers gründen und die Begehung einer Straftat massiv nahe legen müsse. Das Vor-liegen solcher dringender Verdachtsmomente (Tatsachen) müsse im Übrigen vom Arbeitge-ber bewiesen werden. Es sei völlig falsch, wenn gelegentlich so getan werde, als müsse der Arbeitnehmer seine „Unschuld beweisen“. Das oft gebrauchte Argument der „Unschuldsvermutung“ greife hier im Übrigen nicht; es gehe nicht um eine Verurteilung aufgrund des
Strafrechts, vielmehr werde das (arbeitsrechtliche) Kündigungsrecht vom „Prognoseprinzip“ beherrscht, das danach frage, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses angesichts dringender Verdachtsmomente für das Vorliegen einer Straftat des Arbeitnehmers noch zumutbar sei oder nicht. Das sei etwas völlig anderes als eine strafgerichtliche Verurteilung wegen eines begangenen Vermögensdeliktes.

Im zu entscheidenden Rechtsstreit sei das Berufungsgericht unter Würdigung aller Umstände dabei unabhängig von der Rechtfertigung der Kündigung bereits als Verdachtskündigung sogar davon ausgegangen, dass hier nicht nur ein „Verdacht“ gegeben sei, sondern dass die Tatbegehung durch die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts feststehe.

Bei Begehung von Straftaten durch den Arbeitnehmer sei eine vorherige Abmahnung entbehrlich; der Arbeitnehmer könne nicht davon ausgehen, dass der Arbeitgeber gegen sein Vermögen gerichtete Straftaten auch nur einmalig dulden werde.

Bei der Interessenabwägung sei zwar das Alter der Klägerin und ihre langjährige Beschäftigungszeit zu ihren Gunsten zu berücksichtigen gewesen. Zu ihren Lasten allerdings sei ins Gewicht gefallen, dass sie als Kassiererin unbedingte Zuverlässigkeit und absolute Korrektheit zeigen müsse. Der ihr obliegende Umgang mit Geld, Bons etc. setze absolute Ehrlichkeit voraus, der Arbeitgeber müsse sich bei einer Kassiererin auf diese unabdingbaren Voraussetzungen verlassen können. Insofern könne es auch nicht auf den Wert der entwendeten Ware ankommen, das Eigentum des Arbeitgebers stehe auch nicht für geringe Beträge zur Disposition, und das auch nicht bei längerer Betriebszugehörigkeit. Durch eine entsprechende Tatbegehung einer Kassiererin entstehe ein irreparabler Vertrauensverlust. Das Gericht wies ausdrücklich darauf hin, dass gerade dieser Vertrauensverlust gegenüber der als Kassiererin beschäftigten Klägerin, nicht aber der Wert der Sache (1,30 €) maßgeblicher Kündigungsgrund sei.

Der Vertrauensverlust sei im zu entscheidenden Fall noch nachhaltiger gewesen, weil die Klägerin im Rahmen der Befragungen durch den Arbeitgeber immer wieder falsche Angaben gemacht habe, die sie dann, als sie vom Arbeitgeber widerlegt waren, einfach fallengelassen hat. So habe sie beispielsweise ohne Grund und Rechtfertigung eine Kollegin belastet, die nichts mit der Sache zu tun gehabt hatte.

Nach alledem sei die Interessenabwägung zuungunsten der Klägerin ausgefallen; die Kündigung sei gerechtfertigt gewesen.

Der Arbeitgeber habe sich im Einzelfall nicht anders verhalten, als es Einzelhandelsunternehmen bei Vermögensdelikten einer Kassiererin tun, ein Zusammenhang mit der Teilnahme der Klägerin an Streikaktionen sei nicht erkennbar.

Das Landesarbeitsgericht hat die Revision nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.

Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 24.02.2009 - Az.: 7 Sa 2017/08 -

Quelle: Pressemitteilung Nr. 07/09 des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 24.02.2009
http://www.berlin.de/sen/arbeit/gericht ... index.html

Allgemeine Informationen zum Thema:

Verdachtskündigung

Der Verdacht des Arbeitgebers, der Arbeitnehmer habe eine strafbare Handlung begangen, kann Anlaß für eine außerordentliche (fristlose) oder ordentliche Kündigung des Arbeitgebers sein. ... (weiter lesen)
http://www.fachanwalt-arbeitsrecht.de/texte/18.htm
http://www.verdi-bub.de/p_tipps/archiv/ ... uendigung/

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Kündigung für "Emmely"

Beitrag von Presse » 25.02.2009, 08:52

Die Medien berichten lebhaft (u.a.):

Kündigung für "Emmely"

Nicht nur Urteile von Strafgerichten können polarisieren. Ein Richterspruch des Landesarbeitsgerichts Berlin brachte jetzt ebenfalls die halbe Nation auf die Palme. Denn „Emmely" (so der von Unterstützern und Berichterstattern solidarisch-verfremdete Name einer Kaiser-/Tengelmann-Kassiererin) hat nun auch von der Justiz die Kündigung erhalten. Nach mehr als 30 Jahren im Job. Eine mehrfache Mutter und Großmutter. Und das wegen der - mutmaßlichen - Unterschlagung von zwei Leergut-Pfandbons im Wert von zusammen nicht einmal eineinhalb Euro!
.... (mehr)
http://faz-community.faz.net/blogs/wort ... -quot.aspx

Zu Recht gekündigt wegen 1,30 Euro
Von Michael Mielke
Gericht bestätigt Rauswurf der Supermarktkassiererin Barbara E.
Berlin - Es waren zwei Leergut-Pfandbons im Wert von 48 und 82 Cent, die der Kaiser's-Verkäuferin Barbara E. zum Verhängnis wurden. Die 50-Jährige soll sie am 22. Januar 2008 in einer Kaiser's-Filiale in Hohenschönhausen auf ihren Namen abgerechnet haben, obwohl sie ihr nicht gehörten. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg sah in dieser Handlung einen eindeutigen Kündigungsgrund.
... (mehr)
http://www.welt.de/welt_print/article32 ... -Euro.html

Hünxe
Rauswurf wegen 1,30 Euro?
VON FLORIAN LANGHOFF - zuletzt aktualisiert: 25.02.2009 Hünxe (RP) Der Hünxer Ratsherr Dr. Heinrich Peters kann es nicht fassen: Weil sie Pfandbons im Wert von 1,30 Euro unterschlagen haben soll, wurde die Kassiererin einer Supermarktkette in Berlin entlassen. Doch was sagen die Hünxer Bürger zu diesem Fall?
... (mehr)
http://www.rp-online.de/public/article/ ... -Euro.html

Gericht: Kassiererin wegen 1,30 Euro zu Recht gekündigt
Mehr als 30 Jahre hatte sie als Kassiererin gearbeitet, dann wurde Barbara E. wegen 1,30 Euro gekündigt, die sie unterschlagen haben sollte. Sie zog vor Gericht und unterlag, zog erneut vor Gericht und unterlag nun wieder. Doch sie will nicht aufgeben. [mehr]
http://mail.tagesschau.de/red.php?lid=35546&ln=34

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KÜNDIGUNG WEGEN 1,30 EUR IST RECHTMÄßIG

Beitrag von Service » 25.02.2009, 19:16

VERDACHTSKÜNDIGUNG: KÜNDIGUNG WEGEN 1,30 EUR IST RECHTMÄßIG

Schon der dringende Verdacht einer Straftat, der sich auf objektive Tatsachen stützt, kann eine fristlose Kündigung rechtfertigen. Der Wert des "Diebesguts" ist dabei nicht entscheidend, schon 1,30 EUR können genügen. Dies hat das LAG Berlin entschieden.

Nachricht online lesen:
http://www.haufe.de/personal/newsDetail ... d=00511427

Quelle: Mitteilung vom 25.02.2009
REDAKTION PERSONAL
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Thierse: Urteil gegen Kassiererin ist "asozial"

Beitrag von Presse » 26.02.2009, 14:43

Thierse: Urteil gegen Kassiererin ist "asozial"

Berlin (AFP) — Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat das Urteil gegen die Supermarkt-Kassiererin Barbara E. als "asozial" bezeichnet und damit die Kritik des Berliner Anwaltsverein auf sich gezogen. "Das ist ein barbarisches Urteil von asozialer Qualität", sagte Thierse der "Berliner Zeitung". Die Frau sei wegen einer "Nichtigkeit" in die Arbeitslosigkeit gestoßen worden.
.... (mehr)
http://www.google.com/hostednews/afp/ar ... SxFiHeP-XA

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Herr Thierse sollte sich lieber nicht weiter äußern

Beitrag von Cicero » 26.02.2009, 16:03

Presse hat geschrieben: ... Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat das Urteil gegen die Supermarkt-Kassiererin Barbara E. als "asozial" bezeichnet und damit die Kritik des Berliner Anwaltsverein auf sich gezogen. "Das ist ein barbarisches Urteil von asozialer Qualität", sagte Thierse der "Berliner Zeitung". Die Frau sei wegen einer "Nichtigkeit" in die Arbeitslosigkeit gestoßen worden. ...
Die Urteile der Arbeitsgerichte basieren auf der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die bekanntlich eher arbeitnehmerfreundlich ist. Daher wurde auch - zurecht - die Revision nicht zugelassen. Der Fall ist juristisch klasklar entschieden, korrekt behandelt.
Das Geschrei in den Medien ist unbegründet. Auch ein Herrn Thierse sollte sich zurückhalten. Mit seinen Äußerungen macht er deutlich, dass er von der arbeitsgerichtlichen Entscheidungspraxis wohl nur geringe bis keine Ahnung hat. Solche Erklärungen helfen nicht weiter und richten nur noch größeren Schaden an.

Cicero
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Urteil geht grundsätzlich in Ordnung

Beitrag von Rob Hüser » 26.02.2009, 19:12

Nach den Grundsätzen unserer rechtsstaatlichen Ordnung geht das Urteil des LAG grundsätzlich in Ordnung. Das Problem ist weniger das Urteil, sondern die Schelte aus Kreisen, die mit dieser Schelte etwas anderes erreichen wollen.

R.H.
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Thierse: Urteil gegen Kassiererin ist "asozial"

Beitrag von Gaby Modig » 27.02.2009, 08:09

Presse hat geschrieben: ... Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat das Urteil gegen die Supermarkt-Kassiererin Barbara E. als "asozial" bezeichnet und damit die Kritik des Berliner Anwaltsverein auf sich gezogen. "Das ist ein barbarisches Urteil von asozialer Qualität", sagte Thierse der "Berliner Zeitung". Die Frau sei wegen einer "Nichtigkeit" in die Arbeitslosigkeit gestoßen worden. ....
Die Äußerungen von Herrn Thierse haben einen Proteststurm ausgelöst, zurecht. Man darf über die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen sehr wohl diskutieren, man kann sie auch für nicht richtig / nachvollziehbar einstufen, aber hinsichtlich der Wortwohl muss ein Herr Thierse die üblichen Umgangsformen beachten. Man möchte ihm zurufen: So nicht!

Gaby
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Kündigungsgrund: Wer suchet, der findet

Beitrag von Presse » 05.03.2009, 06:58

Kündigungsgrund: Wer suchet, der findet

Der Fall Emmely und die beiden Kassenbons im Wert von 1,30 Euro zeigen
deutlich: Der "gesuchte" Kündigungsgrund ist "in". Auch die
Juracity-Experten stellen seit Beginn der Krise eine unerklärliche Zunahme
der verhaltensbedingten Kündigungen fest:

http://www.arbeitsgericht.de/aktuelles- ... index.html

Quelle: Mitteilung vom 4.3.2009
JuraCity - Recht für Alle!
http://www.blog.juracity.de
http://www.juracity.de
http://www.kuendigung.de
http://www.arbeitsvertrag.de
http://www.arbeitsgericht.de
http://www.aufhebungsvertrag.de
http://www.betriebsverfassungsgesetz.de

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Fristlose Kündigung

Beitrag von Gaby Modig » 05.03.2009, 13:51

Siehe auch in diesem Forum
viewtopic.php?t=1541&highlight=aufhebung
Pflegesystem verbessern - weg von der Minutenpflege. Mehr Pflegepersonal ist vonnöten!

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„Fall Emmely“ - Fristlose Kündigung unwirksam

Beitrag von Presse » 10.06.2010, 16:16

„Fall Emmely“ - Fristlose Kündigung - unrechtmäßiges Einlösen aufgefundener Leergutbons

Ein vorsätzlicher Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Vertragspflichten kann eine fristlose Kündigung auch dann rechtfertigen, wenn der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden gering ist. Umgekehrt ist nicht jede unmittelbar gegen die Vermögensinteressen des Arbeitgebers gerichtete Vertragspflichtverletzung ohne Weiteres ein Kündigungsgrund. Maßgeblich ist § 626 Abs. 1 BGB. Danach kann eine fristlose Kündigung nur aus „wichtigem Grund“ erfolgen. Das Gesetz kennt in diesem Zusammenhang keine „absoluten Kündigungsgründe“. Ob ein „wichtiger Grund“ vorliegt, muss vielmehr nach dem Gesetz „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile“ beurteilt werden. Dabei sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene „Vertrauenskapital“ ebenso wie die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes; eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen kann eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrags notwendigen Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen.

In Anwendung dieser Grundsätze hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts - anders als die Vorinstanzen - der Klage der Kassiererin eines Einzelhandelsgeschäfts stattgegeben, die ihr nicht gehörende Pfandbons im Wert von insgesamt 1,30 Euro zum eigenen Vorteil eingelöst hat. Die Klägerin war seit April 1977 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerinnen als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigt. Am 12. Januar 2008 wurden in ihrer Filiale zwei Leergutbons im Wert von 48 und 82 Cent aufgefunden. Der Filialleiter übergab die Bons der Klägerin zur Aufbewahrung im Kassenbüro, falls sich ein Kunde noch melden sollte. Sie lagen dort sichtbar und offen zugänglich. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen reichte die Klägerin die beiden Bons bei einem privaten Einkauf zehn Tage später bei der kassierenden Kollegin ein. Diese nahm sie entgegen, obwohl sie, anders als es aufgrund einer Anweisung erforderlich gewesen wäre, vom Filialleiter nicht abgezeichnet worden waren. Im Prozess hat die Klägerin bestritten, die Bons an sich genommen zu haben, und darauf verwiesen, sie habe sich möglicherweise durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen Ende 2007 unbeliebt gemacht. Vor der Kündigung hatte sie zur Erklärung ins Feld geführt, die Pfandbons könnten ihr durch eine ihrer Töchter oder eine Kollegin ins Portemonnaie gesteckt worden sein. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis ungeachtet des Widerspruchs des Betriebsrats wegen eines dringenden Tatverdachts fristlos, hilfsweise fristgemäß.

Die Kündigung ist unwirksam. Die mit einer sogenannten „Verdachtskündigung“ verbundenen Fragen stellten sich dabei in der Revisionsinstanz nicht, weil das Landesarbeitsgericht - für den Senat bindend - festgestellt hat, dass die Klägerin die ihr vorgeworfenen Handlungen tatsächlich begangen hat. Der Vertragsverstoß ist schwerwiegend. Er berührte den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin und hat damit trotz des geringen Werts der Pfandbons das Vertrauensverhältnis der Parteien objektiv erheblich belastet. Als Einzelhandelsunternehmen ist die Beklagte besonders anfällig dafür, in der Summe hohe Einbußen durch eine Vielzahl für sich genommen geringfügiger Schädigungen zu erleiden. Dagegen konnte das Prozessverhalten der Klägerin nicht zu ihren Lasten gehen. Es lässt keine Rückschlüsse auf eine vertragsrelevante Unzuverlässigkeit zu. Es erschöpfte sich in einer möglicherweise ungeschickten und widersprüchlichen Verteidigung. Letztlich überwiegen angesichts der mit einer Kündigung verbundenen schwerwiegenden Einbußen die zu Gunsten der Klägerin in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkte. Dazu gehört insbesondere die über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störungen verlaufene Beschäftigung, durch die sich die Klägerin ein hohes Maß an Vertrauen erwarb. Dieses Vertrauen konnte durch den in vieler Hinsicht atypischen und einmaligen Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört werden. Im Rahmen der Abwägung war auch auf die vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung der Beklagten Bedacht zu nehmen, so dass eine Abmahnung als milderes Mittel gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen wäre, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 -
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Februar 2009 - 7 Sa 2017/08 -

Quelle: Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts vom 10.06.2010
http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cg ... s=0&anz=42

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Abmahnung hätte gereicht

Beitrag von Rauel Kombüchen » 12.06.2010, 15:57

Wie zu erkennen ist, handelt es sich um eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung. Grundsätzlich war das Verhalten von Emmely pflichtwidrig. Deshalb darf sich ihr Jubilieren durchaus in Grenzen halten. Nachvollziehbar ist allerdings, dass das BAG eine Abmahnung als ausreichend angesehen hat.

Rauel K.
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