Medikalisierung sozialer Probleme in der Kritik

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Medikalisierung sozialer Probleme in der Kritik

Beitrag von Presse » 09.04.2013, 12:32

Alle Psycho, oder was?

Rostocker Psychosomatik-Experte kritisiert die Medikalisierung sozialer Probleme

Alle Psycho oder was? Diesem Hype steht Professor Dr. Dr. Wolfgang Schneider, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin an der Universitätsmedizin Rostock, skeptisch gegenüber. Doch wie viel Erschöpfung ist normal? Denn, immer häufiger scheinen Stress, Angst, Beziehungsprobleme, Arbeitsüberlastung oder Arbeitslosigkeit sowie andere berufliche oder soziale Schwierigkeiten zu psychischen Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen zu führen.

Diese aktuelle Debatte greifen am 11. April 2013 die Rostocker Klinik von Professor Schneider und die Friedrich-Ebert-Stiftung in einem gemeinsamen Symposium in der Bundeshauptstadt Berlin auf. Das Thema: Medikalisierung sozialer Probleme. Professor Schneider klärt auf: „Mehr und mehr werden soziale Probleme in scheinbar medizinische umgewandelt. Ohne jedoch die wachsenden psychosozialen Anforderungen in der Arbeitswelt wie im Privaten abstreiten zu wollen, hält der Rostocker Mediziner eine Reflexion darüber für angesagt. Die Frage heißt: Inwieweit werden soziale Probleme über komplexe gesellschaftliche Mechanismen zu Unrecht oder zu schnell in die Sprache der Medizin übersetzt. Ein häufig anzutreffendes psychosoziales Problem scheint beispielsweise das Burnout-Syndrom zu sein. „Eigentlich mögen wir diesen Begriff nicht besonders“, sagt Professor Schneider. Geradezu inflationär werde dieser Begriff heute gebraucht und dabei oft auch auf relativ „normale“ Erschöpfungszustände; Gefühle der Überforderung oder auch niedergedrückten Stimmungen des Menschen angewendet, die nicht unbedingt als Ausdruck einer psychischen Erkrankung zu verstehen sind. Allerdings ist zu beachten, dass derartige Probleme oder Symptome auch den Beginn einer relevanten psychischen Erkrankung – vor allem einer Depression – darstellen können.

Der öffentlich prominent verwendete Burnout-Begriff ist schillernd und dient vielfach als Erklärung für subjektiv als bedrängend erlebte Befindlichkeitsstörungen, als deren Ursache in erster Linie berufliche Überlastungen oder ein Zuviel an Engagement angesehen werden. Damit weist dieses Konzept eine den Einzelnen entlastende soziale Funktion auf; nicht er ist schuld an seinen psychischen Problemen sondern die überfordernde Arbeitswelt oder sein zu hohes berufliches Engagement. „Dies erklärt wohl auch die Attraktivität und öffentliche Akzeptanz, die dieses subjektive Leiden vielfach aufweist“ so Professor Schneider.

Epidemiologische Studien haben ergeben, dass heute pro Jahr jeder vierte Mann und jede dritte Frau an einer psychischen oder psychosomatischen Krankheit leiden würden, unabhängig davon, ob diese behandelt wird oder nicht. „Die Krankschreibungen wegen psychischer Probleme haben in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen“, unterstreicht der Mediziner. Auch bei den Berentungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit stellen diese Erkrankungen die größte Gruppe dar (40 Prozent bundesweit). Dies erwecke den Eindruck, dass diese Erkrankungen bedeutsam zugenommen hätten. Letztlich sei jedoch eher davon auszugehen, dass Patienten gegenüber den Ärzten eine größere Bereitschaft aufweisen über etwaige psychische und soziale Probleme zu sprechen und dass Ärzte schneller diese Diagnosen vergeben“, sagt Schneider. Die breite und offensive Debatte in der Politik, den Medien und dem medizinischem Versorgungssystem über die hohen gesellschaftlichen und arbeitsbezogenen Belastungen, aber auch die psychischen Folgen von Arbeitslosigkeit oder prekäre Arbeitsverhältnissen haben ihre Wirkungen bei den einzelnen Menschen. Von Interesse ist die Frage, ob psychische Erkrankungen wirklich zugenommen haben, wie vielfach behauptet.

Patienten klagen gegenüber ihren Ärzten häufiger über Zustände wie Burnout, Erschöpfung oder Depressivität aber auch über starke Belastungen im Alltag, weiß der Experte. Er kritisiert, „dass die behandelnden Ärzte oftmals eine zu große Bereitschaft zeigen, den Betroffenen entsprechende Diagnosen zu geben und sie entweder psychotherapeutisch oder psychopharmakologisch zu behandeln und sie großzügig krank zu schreiben, ohne dass dies jeweils medizinisch angemessen oder hilfreich ist“. Diese Vorgehensweisen seien häufig nicht den wirklichen Problemen angemessen. Auch dadurch würden chronische Krankheitsverläufe angestoßen, die oft in Frühberentung münden würden. Dabei würden die sozialen Probleme häufig nicht genügend berücksichtigt.

Auf dem Symposium sollen diese komplizierten und gesellschaftlich brisanten Prozesse sowie Medikalisierungstendenzen auf den Prüfstand gestellt werden. Zu dem Thema diskutieren am 11. April deshalb Politiker, Mediziner, Gewerkschafter und Wissenschaftler. „Am Ende wollen wir ein realistisches Verhältnis zu diesem Phänomen vermitteln, ohne es zu überhöhen oder zu bagatellisieren“, sagt der Rostocker Mediziner. Dabei sei zu berücksichtigen, dass gerade im Bereich psychischer Themen, die Übergänge zwischen gesund und krank erstens fließend und zweitens stark von gesellschaftlichen Normen und Werten abhängen.

Kontakt
Universitätsmedizin Rostock
Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin
Professor Dr. med. Dr. rer. nat. Wolfgang Schneider
Fon: +49 (0)381 494 9670
Mail: wolfgang.schneider@med.uni-rostock.de

Presse+Kommunikation
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Fon: +49 (0)381 498 1013
Mail: ulrich.vetter@uni-rostock.de
Web: http://www.uni-rostock.de

Quelle: Pressemitteilung vom 09.04.2013
Ingrid Rieck Presse und Kommunikation
Universität Rostock
http://idw-online.de/de/news527417

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Gesunde werden für krank erklärt - Ökonomisierung

Beitrag von WernerSchell » 01.09.2015, 06:51

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viewtopic.php?f=6&t=21239

Am 01.09.2015 wurde folgender Texte bei Facebook gepostet:

Gesunde werden für krank erklärt - Ökonomisierung hemmungs- und grenzenlos!
"Boreout statt Burnout - Wenn Langeweile krank macht". Wirklich eine neue Krankheit oder nur ein Geschäftsmodell? (> Info vom 27.08.2015) - Müssen wir uns nicht auf die wirklich wichtigen psychischen Krankheitssituationen konzentrieren? Gefordert werden u.a. "… strengere Regulierung der Werbung für bestimmte Medikamente oder Behandlungen, um erst gar keine Modekrankheiten aufkommen zu lassen. So müsse etwa verboten werden, Arzneimittel als Lösung für bloße Befindlichkeitsstörungen anzupreisen." - Quelle: Pharmazeutische Zeitung, 11/2015 - Der WDR, Westpol, informierte am 10.05.2015 sehr anschaulich über Modekrankheiten. http://www1.wdr.de/mediathek/video/send ... en100.html (Näheres im Forum von Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk: viewtopic.php?f=6&t=21239 )
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Patienten gehören in den Mittelpunkt

Beitrag von WernerSchell » 26.01.2016, 08:24

Aus Forum:
viewtopic.php?f=2&t=21486

Bild Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk
Unabhängige und gemeinnützige Interessenvertretung
für hilfe- und pflegebedürftige Menschen in Deutschland
Harffer Straße 59 - 41469 Neuss


Pressemitteilung vom 26.01.2016

Patienten gehören im Gesundheits- und Pflegesystem in den Mittelpunkt

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Damit eine gute Versorgung der Patienten gewährleistet werden kann, muss die Personalausstattung des Systems mit Ärzten, Pflegekräften und weiteren Fachkräften angemessen gestaltet werden. Die Vergütungen müssen dem jeweiligen Tätigkeitsfeld entsprechen. Reformen, auch der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ), müssen unter Berücksichtigung der Patienteninteressen erfolgen. Die Patienten gehören in den Mittelpunkt aller Betrachtungen!

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Bei der Reform des ärztlichen Gebührenrechtes darf es nicht nur um die Höhe der Entgeltsätze gehen, sondern es müssen auch strukturelle Verbesserungen bedacht werden. Das jetzige System ist im Wesentlichen am medizinischen Fortschritt und damit verbundenen Ineffizienzen und Fehlanreizen (z.B. Fallpauschalen, Chefarzthonorierung) ausgerichtet.

Häufig verdienen die Begegnungen im Sprechzimmer und am Krankenbett nicht wirklich die Bezeichnung "Gespräch". Statistiken zufolge werden Patienten durchschnittlich schon nach etwa 15 Sekunden unterbrochen. Manche Ärzte widmen sich während des Gesprächs gleichzeitig noch dem Computer. Und viel zu oft stellen sie sogenannte geschlossene Fragen, die der Patient möglichst mit Ja oder Nein, zumindest aber schnell in ein paar Worten, beantworten soll.

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Aus der Sicht der Patienten ist es z.B. dringend geboten, die Technisierung - Apparatemedizin - einzuschränken und stattdessen - wie seit Jahrzehnten gefordert - die zuhörende bzw. sprechende Medizin zu fördern. Bekanntlich können bis zu 90% aller Diagnosen im Gespräch zwischen Patient und Therapeut gefunden werden. Daher muss die zuhörende bzw. sprechende Medizin im Rahmen einer Reform des Gebührenrechtes deutlich gestärkt und folgerichtig besser honoriert werden.

Werner Schell
Dozent für Pflegerecht, Vorstand von Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk https://www.facebook.com/werner.schell.7
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Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) - Streit über Reform!

Beitrag von WernerSchell » 25.05.2016, 10:40

Aus Forum:
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Unabhängige und gemeinnützige Interessenvertretung
für hilfe- und pflegebedürftige Menschen in Deutschland
Harffer Straße 59 - 41469 Neuss


Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) - Streit über Reform!

Dazu erklärt Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk:

Aus der Sicht der Patienten ist es u.a. dringend geboten, die Technisierung - Apparatemedizin - einzuschränken und stattdessen - wie seit Jahrzehnten gefordert - die zuhörende bzw. sprechende Medizin zu fördern. Bekanntlich können bis zu 90% aller Diagnosen im Gespräch zwischen Patient und Therapeut gefunden werden. Daher muss die zuhörende bzw. sprechende Medizin im Rahmen einer Reform des Gebührenrechtes deutlich gestärkt und folgerichtig besser honoriert werden. Fazit: Im Vordergrund einer Reform müssen die Interessen der Patienten stehen.

Werner Schell, Dozent für Pflegerecht und Vorstand von Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk

Siehe auch unter:
viewtopic.php?f=2&t=21483
viewtopic.php?f=2&t=21486
http://www.fr-online.de/wirtschaft/aerz ... 80422.html
Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk (Neuss)
https://www.pro-pflege-selbsthilfenetzwerk.de/
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