´Jammern ist das große Problem`
Verfasst: 19.09.2008, 12:14
Rhein-Kreis Neuss
„Jammern ist das große Problem“
VON FRANK KIRSCHSTEIN
Rhein-Kreis Neuss Gesundheitspolitik ist kein Thema, das im Ruf steht, vergnügungssteuerpflichtig zu sein. Dass eine Diskussion über Ärzte, Kassen, Krankenhäuser dennoch gleichzeitig fachlich interessant und sogar mit Unterhaltungswert verbunden sein kann, davon konnten sich am Mittwochabend die Besucher des Gnadentaler Unternehmer-Tischs in den Räumen der Zülow AG auf Gut Gnadental überzeugen.
Und das lag vor allem am Gast, den Hausherrin Jutta Zülow und Moderator Professor Dr. Winfried Hamel, begrüßen konnten: Wilfried Jacobs, Vorstandsvorsitzender der „Gesundheitskasse“ AOK Rheinland Hamburg. Der Korschenbroicher sprach über „Gesundheitspolitik im Spannungsfeld zwischen Ökonomie, medizinischem Fortschritt und demografischer Entwicklung“ - und das von Beginn an im Klartext.
Das Grundproblem ist bekannt, es wird jedoch mit wenigen Zahlen greifbarer: „Der Generationenvertrag funktioniert nicht mehr. Das Problem ist die Finanzierung: Die erwerbstätige Generation schrumpft“, so Jacobs. 1970 kamen noch sechs junge Beitragszahler auf einen Rentner. 2004 waren es noch drei, 2015 werden es nur noch 1,6 sein. 2040 wird jeder zweite Deutsche über 65 Jahre alt sein. Jungen, die heute geboren werden, haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 98 Jahren, Mädchen sogar von 102 Jahren. Produzenten von Kindernahrung stellten sich auf Diätkost für Senioren um, in den Innenstädten fänden sich mehr Sanitäts- als Spielzeuggeschäfte.
„Dennoch“, so der AOK-Chef, „sollten wir die demografische Entwicklung nicht verteufeln: Älterwerden ist ein Segen.“ Der Knackpunkt aus Jacobs Sicht: „Das Jammern ist das große Problem.“ Der Politik, Gesellschaft und den Akteuren im Gesundheitssystem fehle der Mut oder Wille zu Reformen, die diesen Namen auch verdienten.
30 Prozent Medikamente ohne therapeutischen Nutzen, ein Medizinbetrieb, in dem Geld mit der Gießkanne verteilt werde, anstatt es in Qualität zu investieren, Abläufe, die nicht nur unlogisch und aus Patientensicht unzureichend seien, sondern mit denen auch Millionen „versenkt“ würden - die Beispiele des AOK-Chefs waren ebenso drastisch wie zahlreich.
Viele Entwicklungen seien bekannt, ohne dass konsequent reagiert werde. Beispiel eins: Demenz. „Demenzerkrankungen sind die Zeitbombe des 21. Jahrhunderts“, so Jacobs. „2040 werden wir für Alterskrankheiten so viel Geld aufwenden wie für das gesamte Gesundheitssystem in Deutschland im Jahr 2000.“ Obwohl solche Prognosen nicht unbekannt seien, sorgten nur die wenigsten mit Pflegezusatzversicherungen vor.
Beispiel zwei: Gesundheitsgefährdung bei Kindern. 27 Prozent der 15-Jährigen rauchen, 18 Prozent konsumierten Haschisch oder Marihuana, 30 Prozent seien übergewichtig. Was geschieht? Zu wenig, meint Jacobs. Noch immer stehe der Sportunterricht in Schulen, in denen es angesichts von Lehrermangel eng werde, ganz oben auf der Streichliste. „Es drohen neue Finanzierungsprobleme“, sagt der AOK-Vorstandschef und kündigt ein besonderes Programm an: Eine Million Euro soll auf Schulen verteilt werden, die Sportstunden nicht ausfallen lassen, sondern über die normalen Stunden hinaus sogar noch mehr Sport anbieten.
Dass der Gesundheitsfonds, den die große Koalition ab 2009 einführen will, die Situation im Gesundheitswesen grundsätzlich zum Besseren wenden wird, glaubt Jacobs nicht. Er befürchtet mit der Einführung des Gesundheitsfonds den Einstieg in eine „chronische Unterfinanzierung des Gesundheitssystems“. Es bestehe die Gefahr, dass die Beitragssätze und vor allem die in den Fonds einzuzahlenden Staatszuschüsse von politisch-taktischen Überlegungen - zum Beispiel mit Blick auf anstehende Wahlen - abhängen könnten.
Jacobs plädiert stattdessen für eine Struktur im Gesundheitswesen, die sich klar an den Bedürfnissen der Patienten orientiert. Die Konsequenzen könnten weitreichend sein: Auch wenn Wettbewerb gewünscht sei, machten 213 verschiedene Krankenkassen in Deutschland keinen Sinn. „30 Kassen tun es auch. Davon geht die Welt nicht unter. Und das gilt auch, wenn noch das eine oder andere Krankenhaus schließt“, sagte Jacobs.
Überflüssige Schnittstellen vermeiden, schnelle Entscheidungen ermöglichen, überbordende Bürokratie abbauen, Vorsorge konsequent fördern und belohnen - von solchen Maßnahmen verspricht sich der Vorstandsvorsitzende der AOK mehr. Aus seiner Sicht besonders wichtig: „Was bei komplizierten Krankheitsbildern fehlt, ist ein Lotse durch den Medizinbetrieb.“ Das spare Kosten und nutze gleichzeitig den Patienten. Auch wenn es in der Politik nur ungern thematisiert würde, stünden die Zeichen auf Veränderung.
Trends seien bereits abzusehen: Marktgesetze spielten eine noch größere Rolle. Preis und Leistung würden individualisiert, das heißt: Zu einer guten Grundversorgung könnten, je nach Bedürfnis und finanziellen Möglichkeiten, Wahlleistungen kombiniert werden. Und, so Jacobs: „Der zweite Gesundheitsmarkt boomt weiter.“ Privatinitiative im Wellness-Sektor ersetze bereits heute Defizite des Gesetzgebers im Bereich der Vorbeugung.
Quelle: Bericht der Neuss-Grevenbroicher Zeitung vom 19.9.2008
http://www.ngz-online.de/public/article ... oblem.html (dort auch Bildmaterial)
„Jammern ist das große Problem“
VON FRANK KIRSCHSTEIN
Rhein-Kreis Neuss Gesundheitspolitik ist kein Thema, das im Ruf steht, vergnügungssteuerpflichtig zu sein. Dass eine Diskussion über Ärzte, Kassen, Krankenhäuser dennoch gleichzeitig fachlich interessant und sogar mit Unterhaltungswert verbunden sein kann, davon konnten sich am Mittwochabend die Besucher des Gnadentaler Unternehmer-Tischs in den Räumen der Zülow AG auf Gut Gnadental überzeugen.
Und das lag vor allem am Gast, den Hausherrin Jutta Zülow und Moderator Professor Dr. Winfried Hamel, begrüßen konnten: Wilfried Jacobs, Vorstandsvorsitzender der „Gesundheitskasse“ AOK Rheinland Hamburg. Der Korschenbroicher sprach über „Gesundheitspolitik im Spannungsfeld zwischen Ökonomie, medizinischem Fortschritt und demografischer Entwicklung“ - und das von Beginn an im Klartext.
Das Grundproblem ist bekannt, es wird jedoch mit wenigen Zahlen greifbarer: „Der Generationenvertrag funktioniert nicht mehr. Das Problem ist die Finanzierung: Die erwerbstätige Generation schrumpft“, so Jacobs. 1970 kamen noch sechs junge Beitragszahler auf einen Rentner. 2004 waren es noch drei, 2015 werden es nur noch 1,6 sein. 2040 wird jeder zweite Deutsche über 65 Jahre alt sein. Jungen, die heute geboren werden, haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 98 Jahren, Mädchen sogar von 102 Jahren. Produzenten von Kindernahrung stellten sich auf Diätkost für Senioren um, in den Innenstädten fänden sich mehr Sanitäts- als Spielzeuggeschäfte.
„Dennoch“, so der AOK-Chef, „sollten wir die demografische Entwicklung nicht verteufeln: Älterwerden ist ein Segen.“ Der Knackpunkt aus Jacobs Sicht: „Das Jammern ist das große Problem.“ Der Politik, Gesellschaft und den Akteuren im Gesundheitssystem fehle der Mut oder Wille zu Reformen, die diesen Namen auch verdienten.
30 Prozent Medikamente ohne therapeutischen Nutzen, ein Medizinbetrieb, in dem Geld mit der Gießkanne verteilt werde, anstatt es in Qualität zu investieren, Abläufe, die nicht nur unlogisch und aus Patientensicht unzureichend seien, sondern mit denen auch Millionen „versenkt“ würden - die Beispiele des AOK-Chefs waren ebenso drastisch wie zahlreich.
Viele Entwicklungen seien bekannt, ohne dass konsequent reagiert werde. Beispiel eins: Demenz. „Demenzerkrankungen sind die Zeitbombe des 21. Jahrhunderts“, so Jacobs. „2040 werden wir für Alterskrankheiten so viel Geld aufwenden wie für das gesamte Gesundheitssystem in Deutschland im Jahr 2000.“ Obwohl solche Prognosen nicht unbekannt seien, sorgten nur die wenigsten mit Pflegezusatzversicherungen vor.
Beispiel zwei: Gesundheitsgefährdung bei Kindern. 27 Prozent der 15-Jährigen rauchen, 18 Prozent konsumierten Haschisch oder Marihuana, 30 Prozent seien übergewichtig. Was geschieht? Zu wenig, meint Jacobs. Noch immer stehe der Sportunterricht in Schulen, in denen es angesichts von Lehrermangel eng werde, ganz oben auf der Streichliste. „Es drohen neue Finanzierungsprobleme“, sagt der AOK-Vorstandschef und kündigt ein besonderes Programm an: Eine Million Euro soll auf Schulen verteilt werden, die Sportstunden nicht ausfallen lassen, sondern über die normalen Stunden hinaus sogar noch mehr Sport anbieten.
Dass der Gesundheitsfonds, den die große Koalition ab 2009 einführen will, die Situation im Gesundheitswesen grundsätzlich zum Besseren wenden wird, glaubt Jacobs nicht. Er befürchtet mit der Einführung des Gesundheitsfonds den Einstieg in eine „chronische Unterfinanzierung des Gesundheitssystems“. Es bestehe die Gefahr, dass die Beitragssätze und vor allem die in den Fonds einzuzahlenden Staatszuschüsse von politisch-taktischen Überlegungen - zum Beispiel mit Blick auf anstehende Wahlen - abhängen könnten.
Jacobs plädiert stattdessen für eine Struktur im Gesundheitswesen, die sich klar an den Bedürfnissen der Patienten orientiert. Die Konsequenzen könnten weitreichend sein: Auch wenn Wettbewerb gewünscht sei, machten 213 verschiedene Krankenkassen in Deutschland keinen Sinn. „30 Kassen tun es auch. Davon geht die Welt nicht unter. Und das gilt auch, wenn noch das eine oder andere Krankenhaus schließt“, sagte Jacobs.
Überflüssige Schnittstellen vermeiden, schnelle Entscheidungen ermöglichen, überbordende Bürokratie abbauen, Vorsorge konsequent fördern und belohnen - von solchen Maßnahmen verspricht sich der Vorstandsvorsitzende der AOK mehr. Aus seiner Sicht besonders wichtig: „Was bei komplizierten Krankheitsbildern fehlt, ist ein Lotse durch den Medizinbetrieb.“ Das spare Kosten und nutze gleichzeitig den Patienten. Auch wenn es in der Politik nur ungern thematisiert würde, stünden die Zeichen auf Veränderung.
Trends seien bereits abzusehen: Marktgesetze spielten eine noch größere Rolle. Preis und Leistung würden individualisiert, das heißt: Zu einer guten Grundversorgung könnten, je nach Bedürfnis und finanziellen Möglichkeiten, Wahlleistungen kombiniert werden. Und, so Jacobs: „Der zweite Gesundheitsmarkt boomt weiter.“ Privatinitiative im Wellness-Sektor ersetze bereits heute Defizite des Gesetzgebers im Bereich der Vorbeugung.
Quelle: Bericht der Neuss-Grevenbroicher Zeitung vom 19.9.2008
http://www.ngz-online.de/public/article ... oblem.html (dort auch Bildmaterial)